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Schande

Schande

Titel: Schande Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J. M. Coetzee
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ich kann einfach nicht«, sagt sie. Sie spricht leise und schnell, als hätte sie Angst, daß die Worte versiegen.
      »Ich weiß, daß ich mich nicht verständlich mache. Ich würde es gern erklären, aber ich kann nicht. Ich kann es nicht, weil du bist, wie du bist, und ich bin, wie ich bin.
      Es tut mir leid. Und es tut mir leid, daß es nicht dein Auto war, daß du enttäuscht bist.«
      Sie legt den Kopf auf die Arme; ihre Schultern beben, als sie ihren Empfindungen freien Lauf läßt.
      Wieder berührt es ihn nicht: Lustlosigkeit, Gleichgültigkeit, aber auch Schwerelosigkeit, als wäre er von innen her ausgehöhlt worden und nur die leere Hülle seines Herzens wäre noch da. Wie kann ein Mann in diesem Zustand Worte finden, Töne finden, um die Toten zurückzuholen, denkt er bei sich.
      Keine fünf Schritte von ihnen entfernt sitzt auf dem Fußweg eine Frau in Hausschuhen und einem zerlumpten Kleid und starrt sie grimmig an. Er legt schützend seine Hand auf Lucys Schulter. Meine Tochter, denkt er; meine geliebte Tochter. Die zu führen mir zugefallen ist. Die eines schönen Tages mich führen muß.
      Kann sie seine Gedanken riechen?
      Er wechselt sie am Steuer ab. Auf halbem Weg nach Hause spricht Lucy, zu seiner Überraschung. »Es war so persönlich«, sagt sie. »Es geschah mit so viel persönlichem Haß. Das hat mich mehr als alles andere mitgenommen.
      Der Rest war ... wie erwartet. Aber warum haßten sie mich so? Ich hatte sie nie zuvor gesehen.«
      Er wartet, daß etwas folgt, aber es folgt nichts, für den Augenblick. »Die Geschichte hat durch sie gesprochen«, bietet er schließlich als Erklärung an. »Eine Geschichte des Unrechts. Erkär es dir so, wenn das hilft. Es wirkte vielleicht persönlich, aber es war nicht persönlich. Es kam von den Ahnen her.«
      »Das macht es nicht leichter. Der Schock will einfach nicht weichen. Der Schock darüber, gehaßt zu werden, meine ich. Beim Akt.«
      Beim Akt. Meint sie damit, was er glaubt?
      »Hast du noch Angst?« fragt er.
      »Ja.«
      »Angst davor, daß sie wiederkommen?«
      »Ja.«
      »Hast du geglaubt, wenn du sie nicht anzeigst, dann würden sie nicht wiederkommen? Hast du dir das eingeredet?«
      »Nein.«
      »Was dann?«
      Sie schweigt.
      »Lucy, es könnte so einfach sein. Schließ die Hundepension. Mach es gleich. Schließ das Haus ab, bezahle Petrus dafür, es zu bewachen. Nimm für sechs Monate oder ein Jahr Urlaub, bis sich die Lage in diesem Land verbessert hat. Geh nach Europa. Geh nach Holland. Ich bezahle es. Wenn du zurückkommst, kannst du Bilanz ziehen, einen neuen Anfang machen.«
      »Wenn ich jetzt fortgehe, David, dann komme ich nicht zurück. Vielen Dank für dein Angebot, aber es funktioniert nicht. Du kannst nichts vorschlagen, was ich nicht selbst schon hundertmal erwogen habe.«
      »Was schlägst du also vor?«
      »Ich weiß nicht. Aber wozu ich mich auch entschließe, es soll mein eigener Entschluß sein, zu dem ich nicht gedrängt sein will. Es gibt Dinge, die du einfach nicht verstehst.«
       
     
      »Was verstehe ich nicht?«
      »Zunächst mal verstehst du nicht, was mir an diesem Tag zugestoßen ist. Du machst dir Sorgen um mich, und das weiß ich zu schätzen, du glaubst, du verstündest, aber letztendlich verstehst du nicht. Weil du nicht kannst.«
      Er nimmt das Gas weg und fährt von der Straße herunter. »Mach das nicht«, sagt Lucy. »Nicht hier. Das ist ein schlechtes Wegstück, zu gefährlich, hier anzuhalten.«
      Er beschleunigt. »Im Gegenteil, ich verstehe nur zu gut«, sagt er. »Ich will das Wort aussprechen, das wir bisher gemieden haben. Du bist vergewaltigt worden. Mehrfach.
      Von drei Männern.«
      »Und?«
      »Du hattest Angst um dein Leben. Du hattest Angst, daß sie dich töten würden, nachdem sie dich mißbraucht hatten. Beseitigen würden. Weil du ihnen nichts bedeutet hast.«
      »Und?« Ihre Stimme kommt jetzt als Flüstern.
      »Und ich habe nichts getan. Ich habe dich nicht gerettet.«
      Das ist sein eigenes Geständnis.
      Ihre Hand wischt das ungeduldig weg. »Gib dir keine Schuld, David. Keiner konnte von dir verlangen, daß du mich rettest. Wenn sie eine Woche früher gekommen wären, wäre ich allein im Haus gewesen. Aber du hast recht, ich habe ihnen nichts bedeutet, nichts. Ich konnte es spüren.«
      Wieder eine Pause. »Ich glaube, daß sie es nicht zum erstenmal getan haben«, fährt sie fort, und ihre Stimme ist jetzt

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