Schande
geschlafen; sie haben praktisch aufgehört vorzugeben, daß es das ist, was sie zusammen machen.
In seinem Kopf holt Byron, allein auf der Bühne, tief Luft, um zu singen. Er ist kurz vor seiner Abreise nach Griechenland. Mit fünfunddreißig Jahren hat er angefangen zu verstehen, daß das Leben kostbar ist.
Sunt lacrimae rerum, et mentem mortalia tangunt [16] – das werden Byrons Worte sein, da ist er sicher. Und die Musik, die schwebt irgendwo am Horizont, sie hat sich noch nicht eingestellt.
»Du mußt dir keine Sorgen machen«, sagt Bev Shaw.
Ihr Kopf ruht an seiner Brust – vermutlich kann sie sein Herz hören, dessen Schlag sich der Hexameter anpaßt.
»Bill und ich werden uns um sie kümmern. Wir werden oft zur Farm hinausfahren. Und auch Petrus ist noch da.
Petrus wird ein Auge auf sie haben.«
»Der väterliche Petrus.«
»Ja.«
»Lucy sagt, ich kann nicht ewig Vater bleiben. Ich kann mir nicht vorstellen, in diesem Leben nicht Lucys Vater zu sein.«
Sie fährt mit den Fingern durch seine Haarstoppeln.
»Es wird alles gut«, flüstert sie. »Du wirst schon sehen.«
19. Kapitel
Das Haus gehört zu einer Siedlung, die vor fünfzehn oder zwanzig Jahren, als sie neu war, ziemlich trist gewesen sein muß, die aber inzwischen verbessert wurde durch Rasenwege, Baume und Kletterpflanzen, die sich über die Mauern ranken. Rustholme Crescent Nr. 8 hat eine lackierte Gartenpforte und eine Sprechanlage.
Er drückt auf den Klingelknopf. Eine junge Stimme spricht: »Hallo?«
»Ich möchte zu Mr. Isaacs. Mein Name ist Lurie.«
»Er ist noch nicht zu Hause.«
»Wann kommt er denn?«
»Jetzt – jetzt.« Ein Summen; das Schloß schnappt auf; er stößt die Pforte auf.
Der Weg führt zur Eingangstür, wo ein schlankes Mädchen steht und ihn beobachtet. Sie hat die Schuluniform an: marineblauer Kittel, weiße Kniestrümpfe, Bluse mit offenem Kragen. Sie hat Melanies Augen, Melanies breite Backenknochen, Melanies dunkles Haar; sie ist, wenn möglich, noch schöner. Die jüngere Schwester, von der Melanie gesprochen hat, an deren Namen er sich im Moment nicht erinnern kann.
»Guten Tag. Wann wird dein Vater voraussichtlich nach Hause kommen?«
»Die Schule ist um drei zu Ende, aber er bleibt meist länger. Sie können ruhig hereinkommen.«
Sie hält ihm die Tür auf und macht sich dünn, während er vorbeigeht. Sie ißt ein Stück Kuchen, das sie geziert zwischen zwei Fingern hält. Auf ihrer Oberlippe sind Krümel. Es drängt ihn, sie wegzuwischen; im gleichen Augenblick überflutet ihn heiß die Erinnerung an ihre Schwester. Gott hilf mir, denkt er – was mache ich hier?
»Setzen Sie sich doch, wenn Sie möchten.«
Er setzt sich. Das Mobiliar glänzt, das Zimmer ist bedrückend aufgeräumt.
»Wie heißt du?« fragt er.
»Desiree.«
Desiree, jetzt fällt es ihm wieder ein. Melanie, die Erstgeborene, die Dunkle, dann Desiree, die Ersehnte. Ihr einen solchen Namen zu geben heißt wahrlich die Götter versuchen!
»Ich heiße David Lurie.« Er beobachtet sie genau, aber sie gibt kein Zeichen des Wiedererkennens. »Ich komme aus Kapstadt.«
»Meine Schwester ist in Kapstadt. Sie ist Studentin.«
Er nickt. Er sagt nicht, ich kenne deine Schwester, kenne sie gut. Aber er denkt: Frucht vom selben Stamm, wahrscheinlich bis zur kleinsten Einzelheit. Aber auch mit Unterschieden: das Blut fließt verschieden schnell, der Grad der Leidenschaftlichkeit ist verschieden. Mit den beiden im Bett – das wäre ein königliches Erlebnis.
Er fröstelt, schaut auf die Uhr. »Weißt du was, Desiree?
Ich glaube, ich werde deinen Vater in der Schule abpassen, wenn du mir sagst, wie ich dort hinkomme.«
Die Schule ist im selben Stil errichtet wie die Siedlung: ein flaches Gebäude mit Verblendsteinen und Stahlfenstern und einem Asbestdach, mitten auf einem staubigen mit Stacheldraht umzäunten viereckigen Platz. F. S.
MARAIS steht über der einen Säule am Eingang, MITTELSCHULE steht über der anderen.
Das Schulgelände ist leer. Er geht herum, bis er auf ein Schild stößt, das BÜRO verkündet. Drinnen sitzt eine mollige Sekretärin mittleren Alters und bearbeitet ihre Fingernägel. »Ich möchte zu Mr. Isaacs«, sagt er.
»Mr. Isaacs!« ruft sie. »Ein Besucher für Sie!« Sie wendet sich an ihn. »Gehen Sie einfach hinein.«
Hinter seinem Schreibtisch erhebt sich Isaacs
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