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Schande

Schande

Titel: Schande Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J. M. Coetzee
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sicher hatte keine Grund zu fürchten, daß die Angelegenheit damit enden würde, daß ihr die Kehle durchgeschnitten würde. Von seinem jetzigen Standpunkt aus, von Lucys Standpunkt aus, wirkt Byron wirklich sehr altmodisch.
      Lucy hat Angst ausgestanden, beinahe Todesangst. Ihre Stimme versagte, sie konnte nicht atmen, ihre Glieder waren wie gelähmt. Das geschieht nicht wirklich, hat sie sich gesagt, als die Männer sie unter sich zwangen; es ist bloß ein Traum, ein Alptraum. Während die Männer ihrerseits ihre Angst genossen, sich daran ergötzten, alles taten, um sie zu verletzen, sie zu bedrohen, ihr Entsetzen zu steigern.
       
     
      Ruf deine Hunde! sagten sie zu ihr. Los, ruf deine Hunde!
      Keine Hunde da? Dann sollst du mal richtige Hunde erleben!
      Sie verstehen nicht, Sie sind nicht dabei gewesen, sagt Bev Shaw. Nun, sie irrt sich. Lucy hat richtig vermutet: er versteht doch; er kann, wenn er sich konzentriert, wenn er sich versenkt, dabei sein, er kann sich in die Männer versetzen, sie bewohnen, sie mit dem Geist seiner selbst ausfüllen. Die Frage ist, hat er es in sich, sich in die Frau zu versetzen?
      Aus der Einsamkeit seines Zimmers schreibt er seiner Tochter einen Brief:
      »Liebste Lucy, mit unendlicher Liebe muß ich das folgende sagen. Du bist kurz davor, einen gefährlichen Fehler zu begehen. Du willst Dich vor der Geschichte demütigen. Aber die Straße, die Du einschlägst, ist die falsche.
      Deine Ehre wird Dir geraubt werden; Du wirst nicht mit Dir leben können. Ich beschwöre Dich, höre auf mich.
      Dein Vater.«
      Eine halbe Stunde später wird ein Briefumschlag unter seiner Tür durchgeschoben. »Lieber David, Du hast mir nicht zugehört. Ich bin nicht der Mensch, den Du kennst.
      Ich bin ein toter Mensch, und ich weiß noch nicht, was mich wieder ins Leben zurückführen wird. Ich weiß nur, daß ich nicht fortgehen kann.
      Du begreifst das nicht, und ich weiß nicht, was ich noch tun soll, damit Du es begreifst. Es ist, als hättest Du freiwillig beschlossen, in einer Ecke zu sitzen, wo die Sonnenstrahlen nicht hindringen. Für mich verhältst Du Dich wie einer der drei Affen, der mit den Pfoten über den Augen.
      Ja, der Weg, den ich gehe, ist vielleicht der falsche.
      Aber wenn ich jetzt die Farm verlasse, gehe ich als Gescheiterte und werde dieses Scheitern für den Rest meines Lebens schmecken.
      Ich kann nicht ewig Kind bleiben. Du kannst nicht ewig Vater bleiben. Ich weiß, daß Du mir helfen willst, aber Du bist nicht der Führer, den ich brauche, nicht jetzt.
      Deine Lucy.«
      Das schreiben sie einander; das ist Lucys letztes Wort.
       
     
      Das Geschäft des Hundetötens ist für heute vorbei, die schwarzen Säcke sind an der Tür übereinandergestapelt, jeder enthält einen Körper und eine Seele. Er und Bev Shaw umarmen sich auf dem Fußboden des Behandlungszimmers. In einer halben Stunde wird Bev zu ihrem Bill zurückkehren, und er wird die Säcke aufladen.
      »Du hast mir nie von deiner ersten Frau erzählt«, sagt Bev Shaw. »Lucy erzählt auch nichts von ihr.«
      »Lucys Mutter war eine Holländerin. Das muß sie dir erzählt haben. Evelina. Evie. Nach der Scheidung ist sie nach Holland zurückgekehrt. Später hat sie wieder geheiratet. Lucy ist mit dem Stiefvater nicht gut ausgekommen.
      Sie hat darum gebeten, nach Südafrika zurückkehren zu dürfen.«
      »Sie hat also dich gewählt.«
      »Gewissermaßen. Sie hat auch eine bestimmte Umgebung, einen bestimmten Horizont gewählt. Jetzt versuche ich, sie zu bewegen, wieder fortzugehen, wenn auch nur für eine gewisse Zeit. Sie hat Verwandte in Holland, Freunde. Holland ist vielleicht nicht der aufregendste Aufenthaltsort, aber es gebiert wenigstens keine Alpträume.«
      »Und?«
      Er zuckt mit den Schultern. »Lucy ist momentan nicht geneigt, auf irgendeinen Rat, den ich gebe, zu hören. Sie sagt, daß ich kein guter Führer bin.«
      »Aber du bist Lehrer gewesen.«
      »Nur ganz zufällig. Der Lehrerberuf war mir nie eine Berufung. Ganz gewiß habe ich nie danach gestrebt, die Menschen zu belehren, wie man leben soll. Ich war, was man früher einen Gelehrten nannte. Ich habe Bücher über tote Leute geschrieben. Das war mir ein Herzensanliegen.
      Ich habe den Lehrberuf nur als Broterwerb gesehen.«
      Sie wartet auf mehr, aber er ist nicht in der Stimmung, weiterzureden.
      Die Sonne ist im Untergehen begriffen, es wird kalt.
      Sie haben nicht miteinander

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