Schande
durchdringender Aufmerksamkeit, so kommt es ihm jedenfalls vor.
»So«, sagt Isaacs leise, und die Worte kommen wie ein Seufzer von seinen Lippen: »Wie sind die Mächtigen gefallen!«
Gefallen? Ja, es hat einen Fall gegeben, daran gibt es keinen Zweifel. Aber die Mächtigen? Trifft mächtig auf ihn zu? Er hält sich selbst für unbedeutend und immer unbedeutender werdend. Eine Gestalt vom Rande der Geschichte.
»Vielleicht tut es uns gut«, sagt er, »hin und wieder einen Fall zu tun. Solange wir nicht daran zerbrechen.«
»Gut. Gut. Gut«, sagt Isaacs, der ihn immer noch mit diesem bohrenden Blick ansieht. Zum erstenmal bemerkt er eine Spur von Melanie in ihm: eine gewisse Wohlgeformtheit des Mundes und der Lippen. Auf eine Eingebung hin streckt er die Hand über den Schreibtisch und versucht, dem Mann die Hand zu schütteln, was schließlich damit endet, daß er den Handrücken streichelt. Kühle, unbehaarte Haut.
»Mr. Lurie«, sagt Isaacs, »möchten Sie mir noch etwas sagen, abgesehen von der Geschichte über Sie und Melanie? Sie erwähnten, daß Sie etwas auf dem Herzen hätten.«
»Auf dem Herzen? Nein. Nein, ich habe nur vorbeigeschaut, um mich zu erkundigen, wie es Melanie geht.« Er steht auf. »Vielen Dank, daß Sie mich empfangen haben, ich weiß es zu schätzen.« Er streckt die Hand aus, diesmal geradezu. »Auf Wiedersehen.«
»Auf Wiedersehen.«
Er ist an der Tür – er ist tatsächlich schon im Vorzimmer, das jetzt leer ist –, als Isaacs ruft: »Mr. Lurie! Einen Moment!«
Er geht zurück.
»Was haben Sie heute abend vor?«
»Heute abend? Ich habe ein Hotelzimmer genommen.
Ich habe nichts vor.«
»Kommen Sie doch und essen Sie mit uns. Kommen Sie zum Abendessen.«
»Ich glaube kaum, daß Ihre Frau glücklich darüber wäre.«
»Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Kommen Sie trotzdem. Brechen Sie das Brot mit uns. Wir essen um sieben.
Ich werde Ihnen die Adresse aufschreiben.«
»Nicht nötig. Ich bin schon bei Ihnen zu Hause gewesen und habe Ihre Tochter angetroffen. Sie hat mir den Weg hierher gezeigt.«
Isaacs zuckt mit keiner Wimper. »Gut«, sagt er.
Isaacs öffnet ihm die Haustür selbst. »Treten Sie ein, treten Sie ein«, sagt er und fuhrt ihn ins Wohnzimmer. Von der Frau ist nichts zu sehen, auch von der jüngeren Tochter nicht.
»Ich habe Ihnen etwas mitgebracht«, sagt er und hält ihm eine Flasche Wein hin.
Isaacs dankt ihm, scheint aber unschlüssig, was er mit dem Wein machen soll. »Darf ich Ihnen etwas einschenken? Ich gehe ihn nur öffnen.« Er verläßt das Zimmer; man hört es in der Küche flüstern. Er kehrt zurück. »Wir haben offenbar den Korkenzieher verlegt. Aber Dezzy wird einen bei den Nachbarn borgen.«
Sie sind Abstinenzler, das ist klar. Er hätte es sich denken können. Ein strenger, kleinbürgerlicher Haushalt, sparsam, vorsichtig. Das Auto gewaschen, der Rasen gemäht, Ersparnisse auf der Bank. Alles, was ihnen zur Verfügung steht, darauf konzentriert, ihren zwei kostbaren Töchtern den Weg in die Zukunft zu bahnen: die kluge Melanie mit ihren Theaterambitionen; Desiree, die Schöne.
Er erinnert sich an Melanie, wie sie am ersten Abend ihrer näheren Bekanntschaft neben ihm auf dem Sofa sitzt und den Kaffee mit dem Schuß Whisky darin trinkt, der sie – das Wort kommt zögernd – schmieren sollte. Ihr niedlicher Körper; ihre sexy Kleidung; ihre vor Erregung glänzenden Augen. So wagt sie sich in den Wald, wo der böse Wolf lauert.
Desiree, die Schöne, kommt mit der Flasche und einem Korkenzieher. Als sie herankommt, zögert sie einen Moment, weil ihr einfällt, daß eine Begrüßung erforderlich ist. »Papa?« murmelt sie und wirkt leicht verlegen, als sie die Flasche hinhält.
Na also: sie hat mitbekommen, wer er ist. Sie haben über ihn gesprochen, haben vielleicht eine kleine Auseinandersetzung seinetwegen gehabt – er ist der unerwünschte Besucher, der Mann, dessen Name Finsternis bedeutet.
Ihr Vater hält ihre Hand in seiner fest. »Desiree«, sagt er, »das ist Mr. Lurie.«
»Hallo, Desiree.«
Das Haar, hinter dem ihr Gesicht verborgen war, wird zurückgeworfen. Sie erwidert seinen Blick, noch immer verlegen, aber nun, da sie unter dem Schutz ihres Vaters ist, gefaßter. »Hallo«, murmelt sie; und er denkt: Mein Gott, mein Gott!
Und sie kann ihrerseits nicht vor ihm verbergen, was ihr durch den Kopf geht: Also das ist
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