Schandtat
der Stelle kehrt und ging zur Tür, dann drehte ich mich noch mal um, ließ dem Ärger freien Lauf. Meine Stimme war richtig laut. »Sie und ich wissen doch beide ganz genau, dass ich nur deshalb nicht zu den Solisten gehöre, weil Annas Eltern ein paar Anrufe getätigt haben, nachdem sie davon erfahren hatten.« Ich schüttelte den Kopf. »Ich wette, die Eltern aller drei Solistinnen haben Ihnen gehörig die Ohren voll geheult, was? Dann vielleicht auch noch der stellvertretende Leiter? Jemand vom Bezirk? Vielleicht haben sie sich sogar mein Schülerstammblatt angesehen? Oder gleich meine gesamte Akte?«
Sie sagte nichts, sondern trat von einem Fuß auf den anderen, verschränkte ihre Arme vor der Brust.
»Wusste ich’s doch. Man darf nicht zulassen, dass der Abschaum ganz vorn mitten auf der Bühne steht, nicht wahr? Talent … dass ich nicht lache! Sie sind echt Scheiße!«
Ihre Miene nahm einen gequälten Ausdruck an, und ich konnte erkennen, dass sie nicht schauspielerte. »Poe, ich kann nicht …«
Doch ich unterbrach sie. »Können Sie mir bitte eine einzige Frage beantworten?«
Sie schloss den Mund, starrte mich an und nickte dann.
»Macht es Ihnen eigentlich Spaß, immer nach anderer Leute Pfeife zu tanzen?« Dann drehte ich mich um und stolzierte hinaus.
FÜNFZEHN
Draußen vor dem Chorraum erwartete mich Anna Conrad. Sie hatte das Ganze mit angehört, und ich wollte sie nicht einmal ansehen. Ich dachte an die Party, als ihr Dad gelächelt und mir zugezwinkert hatte und rumgelabert von wegen Aufnahme in den Chor, und mir wurde klar, dass er es gewusst hatte. Der Witz ging auf meine Kosten. Ich lief einfach an ihr vorbei, doch ihre Stimme wehte laut und deutlich hinter mir her. »Ich bin nicht dieser Meinung.«
Ich blieb stehen und drehte mich um. »An deiner Stelle würde ich mich lieber von mir fernhalten.«
Sie holte Luft und stieß den Atem dann wieder aus. »Ich weiß, was passiert ist.«
»Schön für dich. Vielleicht könntest du es auch gleich all deinen Freunden erzählen. Bestimmt werden sie ihre wahre Freude daran haben.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich hab es niemandem erzählt.«
Ich ging zu ihr hinüber. Velveeta schoss mir in den Sinn. »Warum hast du das gemacht?«
Sie runzelte die Stirn. »Was?«
»Velveeta. Warum hast du diesen Brief geschrieben?«
Sie blinzelte überrumpelt. »Ich wusste nicht …« Sie seufzte. »Ich wusste nicht, was sie vorhatten. Ich dachte, es sei einfach ein Spaß. Sie wollten ihn nur ein bisschen aufziehen.«
Ich holte aus, meine Hand sauste wie ein blasser Blitz
durch die Luft, und ich verpasste ihr eine Ohrfeige, die sich gewaschen hatte. Das Klatschen hallte durch den leeren Flur, ihr ganzer Oberkörper wurde zur Seite geschleudert, und sie kreischte vor Schmerz. Vorsichtig kam sie wieder hoch und hielt sich schützend die Hand vors Gesicht, rechnete wohl damit, dass ich erneut angreifen würde. Ihre Lippe blutete, und in ihren Augen sammelten sich Tränen. Als sie das glänzende Rot ableckte, durchzuckte mich ein Gefühl von Übelkeit, weil ich an Velveetas zerschundenes Gesicht denken musste. Doch ich trat direkt auf sie zu, durchbohrte sie mit meinem Blick. »Falsche Schlange!« Dann drehte ich mich um und ging weg.
Theo erwartete mich vor der ersten Stunde an meinem Schließfach, übers ganze Gesicht strahlend, verglichen mit den Donnerwolken über meinem Kopf. Sein Grinsen erstarb sofort. »Was ist passiert?«
»Nichts. War ein blöder Tag.« Ich schnappte mir meine Bücher und verriegelte das Schließfach.
Er ging neben mir her. »Bereit?«
»Wofür? Das Jüngste Gericht?«
Er lachte. »Mann, hast du’ne miese Laune. Was ist denn los?«
»Nichts. Wofür soll ich bereit sein?«
»Für den Tausch unserer Schülerausweise. Schon vergessen?«
Das Letzte, was ich wollte, war überhaupt hier zu sein, aber ich hatte mir die kleinen schwarzen Kästen genauer angesehen, die überall zu finden waren, und ich glaubte ihm immer noch nicht. Also nahm ich meinen Ausweis ab. »Hier.«
Wir tauschten die Karten, und er hängte sich meine um
den Hals. »Wir treffen uns nach der ersten Stunde wieder hier und machen den Tausch rückgängig.«
»Was wird passieren?«
»Sie werden dich ins Büro rufen und fragen, warum du am falschen Ort warst. Ist echt keine große Sache.«
Die ersten beiden Stunden schleppten sich mühsam dahin, und mir blieb nichts anderes übrig, als die ganze Zeit an den Chor zu denken, an Mrs Baird, an die Ohrfeige, die ich
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