Schandtat
lächelten mich an, doch die meisten waren mir fremd. Dann sah ich Anna Conrad. Der Blick, den sie mir zuwarf, verriet rein gar nichts. Neutral im Gegensatz zu dem überraschten Abscheu auf den Gesichtern der drei Mädchen, die sie umringten. Das waren vermutlich die anderen Solistinnen. Wie es schien, hatte der Elitechor seinen Namen aus gutem Grund.
Ich stellte meine Tasche ab, setzte mich hin und wartete. Sechs oder acht Nachzügler tauchten noch nach mir auf, und dann kam auch Mrs Baird. Sie legte einen Stapel Papierkram auf den Tisch und wandte sich uns zu. »Guten Morgen, alle zusammen. Ein trüber Tag da draußen, aber somit ein guter, um drinnen zu sein und zu singen. Herzlich willkommen!« Sie trat vor und sah mich an, bevor sie weitersprach. »Zudem haben wir ein neues Mitglied in unseren Reihen. Ich möchte euch Poe Holly vorstellen und hoffe, dass ihr sie herzlich und mit offenen Armen willkommen
heißt. Sie ist eine fantastische Sängerin, die eine große Bereicherung für unsere Gruppe sein wird.« Mit diesen Worten deutete sie auf mich.
Doch ich stand nicht auf, sondern nickte nur und dankte Gott im Himmel, dass Mrs Baird fortfuhr. »So, nehmt jetzt bitte eure Plätze auf der Bühne ein, damit wir anfangen können.« Die Schülerinnen trotteten im Gänsemarsch auf die Bühne und verteilten sich auf dem halbrunden, mehrstufigen Chorpodium. Ich rührte mich nicht vom Fleck, da ich ja nicht wusste, wo genau ich hingehen sollte. Mein Blick fiel auf Anna und die drei Mädchen, mit denen sie gesprochen hatte. Sie und zwei der Mädchen steuerten auf einen eigenen Bereich in der Mitte der Bühne zu. Die Position für die Solisten also. Ich stand auf und ging in ihre Richtung.
Mrs Baird warf ihnen einen kurzen Blick zu, dann räusperte sie sich. Ich wurde langsamer. Sie wies mir die Richtung, als sie sprach. »Poe, wenn Sie Ihren Platz bitte links neben Angela einnehmen wollen, können wir anfangen.«
Ich sah Mrs Baird an. »Ich weiß nicht, wer …«
»Angela, bitte heben Sie die Hand.«
Angela hob ihre Hand und lächelte. Aus der zweiten Reihe. Ich zögerte, starrte Mrs Baird an. Sie ignorierte mich. Das flaue Gefühl in der Magengrube war schlagartig wieder da, mein Mund wurde trocken. Der gesamte Chor sah mich an, und ich konnte nichts tun. Das ungute Gefühl, das ich in Bezug auf Anna Conrad gehabt hatte, kam zurück. Doch jetzt war ich die Leidtragende, und nicht sie. Ich ging an meinen Platz.
Nach einer vollen Stunde, in der ich zu feige gewesen war, den Raum einfach wieder zu verlassen, packten alle ihre Sachen zusammen und machten sich auf den Weg zum regulären Unterricht. Während die anderen den Raum verließen, rief mich Mrs Baird zu sich. Ich stand vor ihr, ein Abbild der Ruhe und Gelassenheit, das in Wahrheit ein nukleares Inferno verbarg, das kurz vor dem Ausbruch stand. Ich sagte nichts. Mrs Baird blinzelte, dann räusperte sie sich. »Sie wundern sich wahrscheinlich …«
»Ich wundere mich überhaupt nicht.«
Sie sah mich an. »Als ich mit Anna Conrads Eltern darüber sprach, Ihnen die Position als erste Solistin zu geben, da haben sie …«
»Ich habe doch gesagt, dass ich mich nicht wundere.«
Sie seufzte. »Poe …«
»Was?«
»Es tut mir leid.«
Ich lachte, spürte das Messer noch in meinem Rücken. »Es tut Ihnen leid. Ach, wirklich? Na, dann machen wir für Poe doch gleich mal’ne Tüte Mitleid auf, weil sie von einer Lügnerin aufs Kreuz gelegt wurde.«
Ihr Auge zuckte, und sie legte eine Hand auf ihr Pult. »Als ich Ihnen gesagt habe, ich könne Sie als erste Solistin einsetzen, bin ich wohl etwas voreilig gewesen. Hierbei spielen noch andere Dinge eine Rolle, und dafür entschuldige ich mich. Aber es gibt weder einen Grund, so streitsüchtig zu werden, noch für irgendwelche Beschimpfungen.«
Ich lächelte boshaft. »Tut mir ja leid, aber vor mir sehe ich nun mal eine Lügnerin, und wenn Sie in einen Spiegel gucken würden, könnten Sie sie auch sehen. Ich nenne die
Dinge eben beim Namen, Mrs Baird. Keine Politik im Spiel, ja? Nur die nackte Wahrheit.«
Ihre Augen wurden schmal. »Das reicht.«
»Sonst was ? Sonst stoßen Sie mir ein Messer in den Rücken, weil Anna Conrads Eltern Sie in der Hand haben?« Ich verdrehte die Augen.
Sie schüttelte den Kopf. »Annas Eltern haben mich nicht in der Hand.«
»Gott, hören Sie sich selbst eigentlich reden?«
»Wie bitte?«
Ich lachte. »Sie klingen wie ein kompletter Vollidiot. Einfach nur schwach.« Ich machte auf
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