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Schandweib

Schandweib

Titel: Schandweib Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudia Weiss
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ausmalen kann. Dieses Weib hat sich zweifellos mit großer Geschicklichkeit als Mann verkleidet, aber ein Glied wird ihr dadurch wohl nicht gewachsen sein. Kein Glied, kein Corpus Delicti. Ohne Glied beziehungsweise Corpus Delicti gibt es überhaupt kein Delikt, das man ahnden könnte. Er wird weder im Stadtrecht noch in der peinlichen Halsgerichtsordnung Kaiser Karls V. einen anwendbaren Passus finden.«
    Wrangel betrachtete den Brookvogt, dem die Ausführungen Wilkens als juristische Spitzfindigkeiten erscheinen mussten, sollte er ihnen überhaupt folgen können.
    »Vielleicht hat sie die Frau auch verhext«, überlegte der Vogt laut.
    Der Prätor machte eine abweisende Handbewegung. Wrangel zuckte erneut innerlich zusammen. Der Fluch dieses Aberglaubens war allzu tief in den Köpfen und Herzen der Menschen verhaftet.
    »Auch wenn solche Arten von Verfahren früher einmal gang und gäbe waren«, sagte Wilken müde, »so würde ich mich damit jetzt vor den gebildeten Ständen der Gefahr der Lächerlichkeit aussetzen, zumal die bisher vorgebrachten Vorwürfe vollkommen profaner und nicht magischer Natur sind.«
    Mit einem leichten Seufzer drehte sich der Prätor zu Wrangel um. Der stimmte ihm innerlich vollends zu und hoffte, dass er kraft seines Amtes eine Möglichkeit hätte, dem Niedergericht diesen Fall vom Hals zu schaffen.
    »Darum, Prokurator Wrangel, habe ich Euch herbestellt. Heute ist Euer großer Tag, denn Ihr erhaltet von mir Euren ersten Fall.« Dabei lächelte er den verdutzten Wrangel aufmunternd an. »Es ist zu erwarten, dass dieses Weib mittellos ist und das Niedergericht einen Pflichtverteidiger benennen muss. Ihr als der Jüngste am Gericht werdet diese Aufgabe übernehmen. Zeigt, was Ihr in den vergangenen Monaten bei mir gelernt habt, und enttäuscht mich nicht. Zwar gönnte ich es Euch von Herzen, Eure Zeit für einträglichere Fälle zu nutzen, aber wo die Pflicht ruft, hat man ihr zu folgen. So werdet Ihr Euch des Falles … Wie heißt das Mannweib, Brookvogt?«
    »Hinrich Bunk, Herr.«
    »… dieses Hinrich Bunk wohl oder übel anzunehmen haben«, fügte Wilken mit einem Seufzer hinzu. »Schlagt Ihr Euch hier mit Bravour, so verspreche ich Euch, dass der nächste Fall ein einträglicheres Geschäft sein soll. Meine Sicht in dieser Angelegenheit habt Ihr soeben gehört. Haltet die Sache klein und ruhig, rate ich Euch, umso schneller ist sie vom Tisch. Anschließend werden wir schon etwas Passendes als kleine Entschädigung für Euch finden.«
    Umständlich legte er sein Besteck zur Seite und tupfte sich die Lippen ab. Wrangel erstarrte. Ausgerechnet er, der Neuling, sollte dem Prätor den lästigen Fall vom Halse schaffen und sich mit dieser liederlichen Frau herumschlagen? Und das als sein juristischer Einstand bei Gericht? Wie kam der Prätor nur darauf, dass er dafür der richtige Mann war?
    »Bei Geschäften fällt mir doch sogleich Euer Bruder ein. Sicherlich wisst Ihr bereits, dass er und seine reizende junge Frau in den nächsten Wochen bei meinem Bruder Michel zu Gast sein werden. So dürften wir beide wohl bald auch Gelegenheit haben, uns einmal im familiären Kreis zu treffen.«
    Er erhob sein Glas und trank Wrangel aufmunternd lächelnd zu. »Viel Erfolg mit Eurem ersten eigenen Fall, Prokurator.«

Mittwoch, 27. Oktober 1701
8
    W rangel schlug wütend die Fäuste aneinander und kaute grimmig auf getrockneten Gewürznelken herum. Ein nasskalter Wind fegte durch Hamburgs Straßen und trieb den wenigen Menschen, die zu dieser nachmittäglichen Stunde ihrer Wege gingen, Tränen in die Augen. Wrangel musste niesen und schlug den Kragen seines Mantels hoch. Dann legte er ungeduldig einen Schritt zu, um dem ungemütlichen Wetter zu entkommen. Zu allem Überfluss schmerzte ihn die Wunde eines vor wenigen Tagen gezogenen Zahns. Mit vierundzwanzig Jahren begann nun wohl oder übel das langsame Siechtum, dem nur noch der Tod folgen würde. Andere Menschen seines Alters und Standes zeigten zwar in der Regel schon mehr Blöße im Mundraum, aber gaben sie sich auch eine derartige Blöße gegenüber ihren Vorgesetzten?
    Wie hatte er sich gestern ohne jeden Widerspruch die Sache dieses Mannweibs als seinen ersten Fall vom Prätor aufhalsen lassen können? Schließlich war er nicht der einzige Prokurator bei Gericht, und nirgendwo stand geschrieben, dass der Einstand eines jungen Prokurators ein Pflichtfall sein musste. Zwar schien es Wilken leidzutun, ihm diesen Fall zu übergeben. Aber

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