Scharade der Liebe
guten Buch versteckt, damit sie mich nicht ausfragen konnte. Ich habe gehört, dass sie nicht aufgegeben hat. Ich bin bis weit nach Mitternacht in meinem Versteck geblieben. Quincy sagte mir, sie sei mit drei Lakaien in der Kutsche durch London gefahren, um Euch zu suchen.
Sie hat sich natürlich Sorgen gemacht. Ihr habt keine Nachricht hinterlassen, nichts. Selbst die Großtanten haben mit gesucht. Das kleine Mädchen hat angefangen zu weinen, weil seine Schwester so aufgeregt war.
Mitten in der Nacht ist Ihre Ladyschaft zurückgekommen. Natürlich hat sie Euch nicht gefunden. Sie hat im Salon noch weiter auf Euch gewartet. Schließlich ist sie im Morgengrauen nach oben gegangen.«
Gray blickte auf sein Knie und rieb daran herum. »Das war wahrscheinlich ein Grasfleck.« Er wusch auch das andere Knie, dann sah er Horace an. »Sie konnte mich gar nicht finden. Ich war unten am Fluss, habe auf das Wasser geblickt und darüber nachgedacht, wie unser Leben sich auf einmal aufgelöst hat.« Er fuhr sich mit dem Waschlappen übers Gesicht. »Es tut mir Leid wegen meiner Stiefel, Horace. Mir ist gestern Nacht schmutziges Wasser darüber geschwappt.«
»Das spielt keine Rolle. Wichtig ist nur, was Ihr jetzt tut.«
Gray sagte nichts mehr, bis er angezogen, rasiert und gekämmt war. Er sah wieder wie ein Gentleman aus, nur sein blasses Gesicht zeugte von seiner Niedergeschlagenheit.
Leise trat er in sein Schlafzimmer. Die Uhr auf dem Kaminsims zeigte halb neun. Du lieber Gott, er hatte das Gefühl, es seien zehn Jahre vergangen. Er blickte zum Bett. Er war völlig erschöpft. Alles fühlte sich taub an, nur nicht sein Kopf. Sein Kopf pochte von dem Wissen, das sie beide zerstört hatte. Er hätte sich gewünscht, dass ein grauer Schleier sich darüber senkte, aber alles blieb erschreckend klar.
Das Bett war leer.
Jack saß in eine Decke eingehüllt in der Fensternische. Er sah, wie sie mit dem Finger über die beschlagenen Fensterscheiben fuhr. Ihr Haar hing ihr offen über den Rücken.
»Jack.«
Langsam drehte sie sich um. Ihre Augen brannten dunkel und heiß in ihrem übernächtigten Gesicht.
»Gray! O Gott!«
Sie sprang auf und eilte auf ihn zu. »Gray«, flüsterte sie und schlang die Arme so fest um ihn, dass er von ihrer Kraft ganz überrascht war.
Langsam hob auch er die Arme, um sie ebenfalls zu umarmen. Gott, sie nur zu fühlen. Er schloss die Augen. Der Gedanke daran, sie nie wieder halten zu können, sie nie wieder küssen und lieben zu können ... Er zerbrach fast daran. Eine Schwester. Sie war seine verdammte Halbschwester. Er konnte es nicht ertragen.
Sie trat einen Schritt zurück. »Du bist endlich zu Hause. Mein Gott ... geht es dir gut?« Sie tastete ihn überall ab. »Nichts ist gebrochen. Gott sei Dank! Was ist geschehen?«
Sie drückte sich an ihn, und er spürte, wie sie zitterte. Vor Kälte? Wahrscheinlich nicht. Eher vor Angst. Einen Moment lang schloss er die Augen.
Gott, er war ein Bastard, ein selbstsüchtiger Bastard.
»Es ist alles in Ordnung«, sagte er gleichmütig. »Es geht mir gut, Jack, wirklich.«
»Warum bist du denn nicht nach Hause gekommen?«
»Komm, wir müssen reden.« Er ergriff ihren Morgenmantel und reichte ihn ihr. Sie hielt ihn in der Hand und starrte ihn nur an.
Wie einem Kind zog er ihr den Morgenmantel über. Er war sehr hübsch, pfirsichfarben, und stand ihr sehr gut. Er schlang den Gürtel um ihre Taille und band ihn zu. Die ganze Zeit über bewegte sie sich nicht, stand einfach nur da und starrte ihn an.
»Setz dich«, sagte er und wies auf einen Armlehnsessel vor dem Kamin.
Er kniete sich hin und entzündete das Feuer. »Gleich wird es dir warm.«
»Mir ist nicht kalt«, erwiderte sie.
Als das Feuer brannte, stand er auf und trat wieder zu ihr. Er kniete sich hin und legte seine Hände über ihre bloßen Zehen. Sie hatte Recht, ihr war nicht kalt. Selbst ihre Zehen waren warm.
»Es tut mir Leid«, sagte er.
Sie machte eine abwehrende Geste. »Es kommt darauf an, was dir Leid tut.« Sie blickte ihn eindringlich an. Er wusste, dass er kein erhebender Anblick war. Er kam sich vor wie ein Mann, der die ganze Nacht über gegen Dämonen gekämpft und verloren hatte. Sie legte die Finger auf seinen Mund, dann schüttelte sie langsam den Kopf, wie um das aufzuschieben, was er ihr sagen wollte. »Einen Augenblick nur, Gray.«
Sie stand auf und zog an der Klingelschnur. Dann ging sie an die Schlafzimmertür, öffnete sie und trat in den Korridor hinaus.
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