Scharfe Pranken
geboren und aufgewachsen waren. Auch wenn Grigori an sich keine Ausrede brauchte, um bei Marci zu übernachten, hatte er doch das Gefühl, dass sein Neffe ein wenig Privatsphäre nötig hatte. Er war im Umgang mit Mädchen schon immer ein wenig unbeholfen gewesen: entweder zu schroff oder zu sehr damit beschäftigt, sie anzustarren – oder einfach zu … zwangsneurotisch. Die meisten Frauen kamen damit nicht zurecht.
Trotzdem brauchte der Junge keinen Babysitter. Marci Luntz war das jedoch nicht so leicht klarzumachen. Bei gewissen Dingen machte sich Grigori nicht die Mühe, mit ihr zu streiten. Sie konnte genauso dickköpfig sein wie alle anderen Schwarzbären, die er bisher kennengelernt hatte. Grizzlys und Schwarzbären waren grundsätzlich nicht so entspannt wie Eisbären.
Also schlenderten sie zu seinem Haus hinauf, sein Bauch noch immer prall gefüllt mit dem alten Walross, das er sterbend am Strand gefunden hatte. An Marcis Gesicht klebte hingegen noch immer ein wenig Honig, einschließlich einiger stinksaurer Bienen. Sie hatten einen Abstecher zu den ganzjährigen Bienenstöcken gemacht, die die Gemeinde ein paar Kilometer außerhalb der Stadt hielt.
Marci wollte gerade die Treppe hinaufsteigen und ins Haus gehen, aber Grigori wusste es besser und schob sie mit seinem Körper zu dem großen Panoramafenster an der Seite des Hauses. Als sie um die Ecke bogen, blieben sie beide wie angewurzelt stehen, starrten schockiert durch das Fenster und beobachteten mit offenem Mund, was sich dahinter abspielte.
Dass Blayne auf seiner Couch herumhüpfte, störte ihn nicht im Geringsten. Sie war ein so kleines, zartes Ding, dass sie ohnehin keinen ernsthaften Schaden anrichten konnte. Aber seinen Neffen nackt zu sehen, wie er mit Blayne tanzte, während sie sich diese bescheuerte Sechzigerjahre-Musik anhörten, die der Junge so liebte … Nun, das hatte Grigori wirklich noch nie gesehen, und er hätte auch nicht erwartet, es jemals zu sehen. Der Anblick brachte ihn zugegebenermaßen ein wenig aus der Fassung.
Nicht, weil der Junge nackt war. Nicht, weil er sang – der Junge hatte schon immer gerne vor sich hingesummt, wenn er sich unbeobachtet gefühlt hatte. Aber das Lächeln? Das Lachen? So zu tun, als halte er ein Mikrofon in der Hand, während Blayne eine Hippie-Backgroundsängerin mimte und ihr langes Haar vor ihrem Gesicht schüttelte?
Das zu sehen, hätte Grigori wirklich niemals erwartet. Zumindest nicht ohne die Einnahme sehr starker Halluzinogene. Und dafür gab es auch einen einfachen Grund: Das dort war Bold Novikov. Der Junge, der erst wirklich zu leben schien, wenn er das Eis betrat oder in seinem Haus etwas entdeckte, das er für ein Durcheinander hielt. Ansonsten blieb Bold für sich alleine, beobachtete alles um sich herum, sagte nichts und plante seine Flucht aus der Stadt.
Aber diesen Jungen dort kannte Grigori nicht, und er hätte niemals geglaubt, dass er in seinem Neffen steckte.
Da er dem Jungen nicht im Weg stehen wollte, drehte er sich zu Marci um, um wieder mit ihr nach Hause zu gehen. Er musste jedoch feststellen, dass die Schwarzbärin vor ihm auf dem Rücken im Schnee lag und sich vor Lachen scheinbar gar nicht mehr einkriegen konnte. Bei jedem anderen wäre er sich sicher gewesen, dass er den Jungen auslachte, und das hätte Grigori niemals durchgehen lassen. Aber er kannte Marci Luntz. Sie hätte Bold niemals ausgelacht. Nein. Das hier war die reine Freude über einen Jungen, der ihr sehr am Herzen lag und den sie fast genauso sehr liebte wie ihre eigenen Kinder. Grigori konnte sich bereits jetzt ausmalen, was er sich für den Rest der Nacht würde anhören dürfen: dass sie immer gewusst hatte, dass Blayne Thorpe die perfekte Frau für »ihren« Bold war und dass es Ewigkeiten gedauert hatte, bis die beiden es endlich selbst gemerkt hatten und bla bla bla. Ihm graute jetzt schon davor. Manchmal gab es nichts Schlimmeres als geschwätzige Bärinnen.
Grigori beschloss, dass er nicht warten wollte, bis sie ihren Hintern wieder aus dem Schnee zu heben geruhte, packte sie an ihrem Fußgelenk und schleppte sie zurück nach Hause.
Sie lachte den ganzen Weg über.
Blayne schaute aus dem Fenster. Ein harter, beißender Wind schleuderte Schnee und Eis gegen das Glas. Normalerweise deprimierten sie Stürme wie dieser, sofern nicht gerade Weihnachten war, da sie für gewöhnlich bedeuteten, dass sie zu Hause festsaß und sich zu Tode langweilte. Allerdings saß sie nur sehr selten lange
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