Scharfe Pranken
sich noch immer mitten im Raum … und rannte im Kreis.
»Sie kann hier nicht bleiben«, bekräftigte der Kojote. »Sie wühlt die anderen Kinder auf, und sie ist …«
»Ich weiß, ich weiß.« Dee wünschte sich nur, sie würde das Mädchen verstehen. »Hat sie denn schon mal jemanden verletzt? Oder es versucht?«
»Nein.«
Gut. Das war zumindest etwas.
Dee betrat den Raum und hielt die Tür mit ihrem Fuß offen. »Abby«, rief sie. »Abby!«
Abby Vega blieb abrupt stehen und fokussierte Dee-Ann. Das Mädchen keuchte, wankte ein wenig hin und her und starrte sie an. Nein, Dee war noch nicht bereit, sie aufzugeben. Aber sie brauchte Hilfe.
»Komm schon, Kleine. Wir gehen nach draußen.«
Mit fröhlichem Gebell rauschte Abby an ihr vorbei, knallte gegen die Wand gegenüber der Tür, benutzte den Aufprall, um ihren Körper zu drehen und rannte den Flur hinunter auf den Ausgang zu. Seufzend ging Dee ihr nach.
Seit einer Woche trainierten sie jeden Morgen. Und seit einer Woche musste Blayne täglich aufs Neue lernen, dass sich nicht jeder so leicht ändern ließ, wie sie geglaubt hatte. Es schien, als verstehe Bo Novikov einfach nicht, dass er ein Problem hatte.
Sicher, beim letzten Heimspiel der Carnivores am vergangenen Sonntag hatten ihnen Bos besondere Fähigkeiten nicht nur den Sieg beschert, sondern auch dafür gesorgt, dass die Mannschaft zum ersten Mal seit Jahren in den Play-offs der Meisterschaft stand. Bo hätte darauf zu Recht stolz sein können, aber trotzdem war er im Gegensatz zu seinen Mitspielern, die gejubelt und einander vor Freude umarmt hatten, nur mit seinem üblichen finsteren Blick vom Eis gegangen, während die treuen New Yorker Fans fast zwanzig Minuten lang seinen Spitznamen skandiert hatten. Falls ihm all das auch nur ein wenig bedeutete, dann hatte Blayne es nicht erkennen können.
Außerdem hatte sie insgeheim beobachtet, wie er überambitionierte Fans gegen die Wand donnerte, weil sie ein Autogramm von ihm wollten – oft auf irgendein Körperteil. Scheinbar hielt er diese Reaktion für völlig normal. Ebenso schien er es als angemessenes Verhalten zu betrachten, den diversen Mädchen keinerlei Beachtung zu schenken, die offensichtlich »Ich würde dich gern besser kennenlernen«-Signale aussandten. Und dass er sich jedes Mal aufregte, wenn Blayne ein oder zwei Minuten zu spät zum Training kam, anstatt das Leben einfach zu nehmen, wie es kam … Nun, Blayne kam immer wieder zu demselben Schluss: Der Mann sah einfach nicht, dass er ein Problem hatte. Dabei hatte er riesige Probleme.
Es war wirklich traurig. Dieser eigentlich ganz anständige Kerl verstand einfach nicht, dass Blayne ihm helfen konnte. Bo wies sie zwar nie rundheraus ab, wenn Blayne ihm subtile Vorschläge unterbreitete, wie er die Dinge besser handhaben konnte – stattdessen »fragte er zurück«, wie er es nannte.
Beispielsweise: »Woher weißt du denn, dass er nicht wollte, dass ich ihn gegen die Wand donnere? Schließlich hat er vor seinen Freunden damit angegeben.« Oder: »Warum soll ich mich mit jemandem unterhalten, der auf dem Titelblatt der japanischen Vogue abgebildet war, wenn du mit deinen Hello-Kitty-Ohrenschützern doch direkt neben mir stehst? Wer sollte deinen heißen Modegeschmack noch toppen?«
Derartige Fragen verwirrten Blayne nur. Sie konnte beim besten Willen nicht sagen, ob sie höhnisch gemeint waren, da er so ernsthaft wirkte, wenn er sie stellte.
Und was die Themen »Zeitmanagement« und »Das Leben genießen« anging, schienen sie sich im Stillen darauf geeinigt zu haben, dass sie sich nicht einig waren. Trotzdem gab Blayne sich alle Mühe, pünktlich zum Training zu erscheinen. Sie wollte nicht zu den Mädchen gehören, die ihre Freunde als selbstverständlich betrachteten.
Blayne schaute sich im Badezimmerspiegel an, während ihre elektrische Zahnbürste in ihrem Mund surrte. War Bo Novikov ein Freund von ihr? Wirklich? Sie musste einen Moment darüber nachdenken. Sie schloss nicht leichtfertig neue Freundschaften. Sie hatte zwar viele Freunde, aber die hatten alle bewiesen, dass sie gute, zuverlässige Menschen waren.
War Bo Novikov ein guter, zuverlässiger Mensch? Nun … zuverlässig war er. Genau wie die Uhr, die er trug, war dieser Mann absolut zuverlässig. Aber ein guter Mensch …? Okay, zunächst mal war er kein schlechter Mensch. Das war zumindest ein Anfang. Aber musste er nicht ein guter Mensch sein, wenn er jeden Morgen eine ganze Stunde mit ihr verbrachte?
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