Schatten Der Erinnerung
undurchdringliches Gesicht auf. Diese Begegnung konnte er jetzt überhaupt nicht gebrauchen. Er hoffte, dass seine Augen nicht gerötet waren, und ging weiter bis zum Hofeingang.
»Wo, zum Teufel, willst du hin?« verlangte Rick zu wissen. »Was, zum Teufel, ist das?« Er stieß mit einem Finger gegen den Sack.
»Ich gehe weg.«
»Wegen ihr?«
Slade war wütend, weil es die Wahrheit war. »Meine Gründe gehen dich, verdammt noch mal, nichts an.«
»Warum nicht? Ich bin schließlich dein Vater, oder?«
Slade zögerte einen Augenblick mit seiner Antwort. »Du hast schon vor langer Zeit das Recht verloren, dich als meinen Vater zu bezeichnen.«
Rick biss die Zähne zusammen. »Vielleicht hast du seit damals, als du mich so im Stich gelassen hast, keinen Anspruch mehr, dich als meinen Sohn zu sehen.«
Slade erinnerte sich an die Nacht vor zehn Jahren, als er von zu Hause weggelaufen war. Einen Moment lang kam ihm eine dunkle Ahnung, dass sich sein Vater in jener Nacht verraten gefühlt hatte, aber dann wurde ihm bewusst, dass er sich das nur einbildete oder in kindliches Wunschdenken verfallen war. »Gib mir nur die Schuld. Du machst nie etwas falsch, oder?«
»Das habe ich nicht behauptet.« Rick stieß erneut mit seinem Finger gegen den Sack. »Du lässt mich also im Stich?«
»Ja«
»Du lässt mich wieder im Stich?«
In jener Nacht vor zehn Jahren hatte Rick Slade ohne den geringsten Protest gehen lassen. Aber damals war er auch nicht der Erbe gewesen, sondern nur der nichtsnutzige zweite Sohn. Slades Magen verkrampfte sich vor Schmerz. Irgendwie beschlich ihn eine unwillkommene, schreckliche Ahnung. Es schien fast, als wäre Rick aufgebracht. »Wenn du es so sehen willst.«
»Wie, zum Teufel, soll ich es sonst auffassen?«
Slade zuckte die Schultern, als berührte es ihn nicht.
»Du nimmst sie nicht mit!«
Slade versuchte zu lachen. »Glaub mir, alter Mann, sie gehört ganz allein dir.« Es sollte eigentlich nicht weh tun, denn er kannte Rick und wusste, dass sein Vater sich nicht im Geringsten um ihn scherte. Dennoch schmerzte es mehr als je zuvor. Der Grund dafür war sicher, dass er an diesem Morgen bereits zu vielen Gefühlen freien Lauf gelassen hatte und sein Herz immer noch blutete. »Jetzt hast du alles, was du wolltest«, sagte er schroff. »Darüber solltest du doch glücklich sein. Du hast Miramar und deine Erbin. Ich bin mit ihr fertig und mit dir auch.«
»Du Hurensohn!« rief Rick.
»Ich glaube, du hast das schon früher mehrmals gesagt. Und ich weiß genug, um es wörtlich zu nehmen. Lass meine Mutter aus dem Spiel.«
»Den Teufel werde ich«, schrie Rick. »Sie hat mich verlassen. Du bist genauso wie sie.«
Auch Slade war jetzt wütend. Er hatte das Bedürfnis zu explodieren, zu verletzen. Wie ein verwundetes Tier schlug er wild um sich. »Eines hatten wir beide gemeinsam, nämlich dich. Du hast sie vertrieben. Nicht sie hat dich verlassen, du hast sie vertrieben!«
Rick erblasste.
Slade holte zum tödlichen Schlag aus. »Aber über mich hast du keine Macht. Das ist für immer vorbei. Einmal hast du mich vertrieben. Jetzt gehe ich aus eigenem Antrieb.«
Rick fasste sich wieder. In seinen dunkelblauen Augen, die denen von Slade so glichen, lagen der gleiche Zorn und die gleiche Qual. »Gut! Geh weg! Glaubst du, ich werde mich deswegen aufregen? Denkst du, ich will, dass du bleibst oder glaubst du vielleicht dass ich dich brauche?« Er lachte rau. »Ganz bestimmt nicht!«
Slade nahm den Sack vom Boden auf.
»Du würdest hier sowieso nur alles über unsere Köpfe hinweg mit deinen blöden Ideen zugrunderichten«, rief er, als Slade sich auf den Weg machte.
Slade antwortete nicht.
Rick brüllte ihm nach: »Außerdem habe ich jetzt sie, verdammt! Ich brauche dich nicht Junge, und ich werde auch weiterhin ohne dich fertig werden!«
Slade fuhr zusammen, ging aber weiter. In seinem Inneren konnte er nicht gleichgültig bleiben. Sein Herz fühlte sich an, als ob jemand ein Messer darin umdrehen würde. Dennoch ging er mit festen Schritten weiter.
Als er am Eingangstor angekommen war, rief Rick mit einer Stimme, die auf einmal unnatürlich hoch klang:
»Wann. kommst du wieder?«
Slade gab keine Antwort, denn sie hätte nur gelautet, dass er nie mehr zurückkommen werde. Wieder durchzuckte ihn der Schmerz. Miramar für immer zu verlassen war genauso hart wie alles andere.
»Du kommst immer wieder«, rief Rick ihm nach, als ob er Slades Schweigen verstanden hätte.
Slade schwieg.
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