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Schatten Der Erinnerung

Schatten Der Erinnerung

Titel: Schatten Der Erinnerung Kostenlos Bücher Online Lesen
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LIEBENDER SOHN. 1873-1899.
    Die Worte verschwammen vor seinen Augen - oder narrte ihn seine Einbildung? Gott, die Inschrift sagte nichts und doch alles aus. Es war so ungerecht, dass James als junger Mann hatte sterben müssen. Er war edelmütig gewesen, so gottverdammt edelmütig und voller Liebe. Er war ein liebevoller Sohn, Bruder und Mann gewesen.
    Er, Slade, dagegen war ein Scheißkerl und Verräter.
    »James«, rief er plötzlich laut. »Ich hatte nie die Absicht meine Ehe zu vollziehen, niemals!«
    Aber seine Reue war sinnlos. Er hatte ein Geheimnis: In den letzten zehn Jahren hatte er so rechtschaffen und vorbildlich gelebt wie nur irgend möglich, weil er allen zeigen wollte, dass sein Vater ihn falsch beurteilte. Auch um sich selbst zu beweisen, dass Rick nicht recht hatte. Aber nun galt alles nichts mehr, denn letzte Nacht war die Wahrheit ans Licht gekommen. Er war ein Betrüger, nicht ehrenhaft, war es auch nie gewesen. All seine früheren Bemühungen hatten sich als Heuchelei entblößt. Allein James gebührte alle Ehre der Delanza-Familie.
    Er, Slade, war ein selbstsüchtiger Mistkerl, wie Rick so oft gesagt hatte. Und sie sah ihn als edlen Helden. Er konnte nicht einmal darüber lachen, wie naiv sie war.
    O Gott, wie konnte er nur eine solche Nacht mit ihr verbringen? Warum hatte er auch nur für eine Sekunde vergessen, dass diese Frau James' Verlobte war, die sein Bruder so geliebt hatte?
    »Es tut mir leid«, schluchzte er. »James, es tut mir so leid!« Aber auch jetzt als er nach seinem Bruder rief, war er noch ein Verräter, denn in seinem Kopf erklang immer wieder derselbe Satz: Auch ich liebe sie.
    Er begriff das nicht, denn wie konnte es wahr sein, wenn er James liebte? Letzte Nacht hatte er Elizabeth offenbar nur benutzt und das war alles.
    Aber daran war nichts Unrechtes gewesen. Er hatte sich nicht als Betrüger gefühlt. Dieses Gefühl beschlich ihn erst jetzt.
    Er umfasste den Grabstein und zwang sich, nur noch an James zu denken. Er war hierhergekommen, um Vergebung zu erbitten, nicht aber, um sein Herz zu erforschen und James ein weiteres Mal zu verraten.
    »James«, rief er, sein Gesicht zum Himmel gewandt. »Es tut mir leid!« Er schloss die Augen und lauschte dem ersten morgendlichen Vogelgezwitscher. Vom Grab kam keine Antwort. Hatte er denn wirklich eine erwartet? Wie hätte das möglich sein sollen?
    Seine Entschuldigung war nicht ganz aufrichtig. Der störrische Rebell in ihm hörte nicht auf zu glauben, da auch er ein Recht habe. Sie war jetzt seine Frau, und James lebte nicht mehr, verdammt noch mal. Und er brauchte sie.
    Doch er war stärker, als er es je von sich angenommen hatte. Er zwang sich, sich aufzurichten. Er würde den Teil in sich bekämpfen, der James weiterhin verriet, und er würde gewinnen, denn er musste gewinnen. Andernfalls würde er seine Selbstachtung verlieren.
    »Ich verspreche«, stieß er schließlich schroff hervor in: der Hoffnung, dass James ihn hören konnte, »ich verspreche ... niemals wieder. Es war ein Fehler, aber es wird nicht wieder geschehen. Sie bedeutet mir nicht das geringste, ich schwöre es.«
    Slade wartete, aber James erschien nicht. Da war keine Reaktion, keine Antwort, keine Vergebung. Es gab nicht das kleinste Anzeichen dafür, dass James anwesend war und verzieh. Es war dumm, auf sein Erscheinen zu warten, denn James war tot mausetot. Geister waren etwas für Kinder, nichts für Männer. Da fühlte Slade Tränen auf seinen Wangen.
    Er bedeckte sein Gesicht mit den Händen. Irgendwie würde er darüber hinwegkommen. Da James unwiderruflich tot war, konnte es aus dieser Richtung kein Verzeihen geben. Vielleicht würde er sich eines Tages, wenn er Glück hatte, selbst vergeben können.
    Schnell drehte er dem kalt schimmernden Grabstein den Rücken zu. Er musste fort, nicht nur vom Friedhof, sondern von Miramar und ihr. Er hatte erkannt, wie labil er war, und deshalb konnte er auf keinen Fall mit ihr hier leben. Nachdem er einmal schwach geworden war, würde das wieder passieren. Es könnte sogar die schreckliche Situation eintreten, dass er es gar nicht mehr bedauerte, mit ihr zusammen zu sein. Das war der Grund, warum er sich nicht traute zu bleiben.
    Den Rückweg zum Haus legte er langsamer zurück. Nachdem er den Hügel erklommen hatte, sah er vor sich die ausgedehnte, in Ziegelbauweise errichtete Hazienda liegen. Er stockte, denn am Tor, neben seinem Reisesack, stand sein Vater.
    Slade fasste sich und setzte ein

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