Schatten der Gegenwart (Für Immer & Länger)
einen
Schritt vor den anderen. Ihr Gewand berührte dabei nicht einmal den Boden,
vielmehr schien sie einige Zentimeter über dem Gras zu schweben. Ihre Schritte
verursachten keinerlei Geräusch, doch die Luft um sie herum begann mit jeder
Bewegung zu vibrieren und versetzte ihre Umgebung in Schwingung.
Je näher sie an uns herantrat, desto
stärker wurden die Impulse. Ich spürte, wie jeglicher Widerstand aus meinen
Gliedern wich. Krampfhaft versuchte ich einen Blick auf Richard zu erhaschen,
der nur wenige Zentimeter von mir entfernt hockte. Doch die Kraft, die immer
noch auf meinen Schultern und Nacken lag, presste meinen Blick starr nach
unten.
Die gespaltene Frau, die Beobachterin
hatte sich direkt vor Richard postiert, zumindest konnte ich ihre Füße erkennen
oder vielmehr den Saum ihres bodenlangen Kleides.
»Das war Selbstjustiz. Eines der
schwersten Verbrechen unserer Art. Was nicht auf der Liste steht, dass darf
auch nicht genommen werden«, säuselte sie und klang dabei wie jemand, der ein
Kind belehrte. »Ich habe meine Augen überall, Richard. Das solltest du besser als jeder andere wissen.«
Wie konnte sie nur von Gleichgewicht sprechen?
Wir hatten Leben gerettet, unschuldige Leben, die nur durch die Verruchtheit
der Menschheit überhaupt erst dieses Schicksal erhalten hatten. Kein normales
Kind durfte einem Entführer oder Vergewaltiger ausgesetzt werden. Das hatte
nichts mit Selbstjustiz zu tun. Es war gerecht.
»Das ich nicht lache«, prustete ich
heraus, jedes Wort dabei so schwer wie ein Hinkelstein. Von wegen ihre Augen
seien überall! »Wie nennt ihr das, wenn eine junge Frau von unseres Gleichen
erschreckt, verängstigt wird und schließlich fast vor einen heranrasenden Bus
läuft? Ist das keine Selbstjustiz. Ist das keine Manipulation? Und wo wart ihr
da?!«
Ich spürte einen festen Griff um meine
Kehle. Immer weiter wurde mein Hals zugedrückt und raubte mir so jegliche
Möglichkeit zu atmen. Wer auch immer diese Frau sein mochte, sie war mächtig.
Es bedürfte nicht einmal ihrer Hand, um mich zu erwürgen.
»Wie kannst du es wagen, die Stimme
zu erheben, wenn ich spreche!«, donnerte die Frau empor. Der belehrende Ton war
verschwunden. Stattdessen erklang purer Hass in ihrer Stimme.
Mein Kopf schnellte nach hinten, so
dass mein Gesicht genau auf ihres gerichtet war. Ein unbändiger Schmerz
breitete sich in meinem gesamten Oberkörper aus und es fühlte sich an, als
würde mein Kopf bald entzwei gerissen. Mit starrem Blick sah ich sie an und erkannte
die Wut, den Zorn aber auch die Selbstgefälligkeit in ihren Augen.
»Ich bin das Recht. Ich bin das
Gesetz. Ich bin das Gleichgewicht«, zischte sie und breitete in einer großen
Geste ihre Arme aus, als wollte sie die ganze Welt von ihren Worten überzeugen.
Langsam aber unaufhörlich schwebte sie auf mich zu, so dass nur noch wenige
Zentimeter unsere Gesichter voneinander trennten.
»Ich übersehe nichts!« Ihren Worten
schwang ein leichter Duft von Vanille nach, der mit dem jetzigen Anblick in
keiner Weise zusammen passte.
Sie war ein Monster, ein richtendes
Wesen, das nach eigenen Regeln entschied, was Recht und was Unrecht war. Ihr
Urteil, ihre Vorstellungen hatten nichts mit moralischer Gerechtigkeit zu tun –
sondern mit Macht.
Ich konnte es förmlich in ihren Augen
greifen – es war die Macht, die alles um sie herum, ihr Innerstes nährte. Die
Macht, über Wohlergehen und Verdammnis zu entscheiden. Etwas, dass allein ihr
gebührte. Dass sie gekommen war, um genau dies unter Beweis zu stellen, war
nicht zu übersehen. Sie mochte zwar mächtig sein, aber doch war sie nicht
anders, als all die anderen. Ein offenes Buch, das ihre Geheimnisse nur schwer
vor mir verbergen konnte.
Aber es war nicht meine Fehltat, die
sie hierher gelockt hatte. Es waren Richards, es waren unsere Sondereinsätze.
Es waren die Momente, in denen mich nicht gänzlich das Gefühl befiel, ein
Monster zu sein, in denen wir Gutes vollbracht hatten.
Es war egal, was wir getan hatten.
Sie würde heute ein Urteil fällen, ihr Urteil – und es stand bereits fest, war
in Stein gemeißelt. Jede Verteidigung, jeder Einwand würde nichts daran ändern
können.
Es war diese Erkenntnis, die all die
Angst aus meinem Körper vertrieb. Ich spürte nichts mehr, keinerlei Emotionen
durchfuhren meine Adern, meinen Geist. Sie mochte über uns richten, aber sie
würde mich nicht brechen. Nicht sie, nicht so.
Mein Körper war immer noch ein
Instrument ihres Willens und
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