Schatten der Gegenwart (Für Immer & Länger)
zucken. Diesmal verriet es den Kampf in seinem Inneren und die
Schläge des Für und Wider, die ausgeteilt wurden.
»Erzähl es mir.« Meine Stimme war nur
ein Flüstern. Zu mehr hatte ich keine Kraft, aber meine Worte verfehlten ihre
Wirkung nicht.
Entgeistert sah er mich an, starrte
in mein Innerstes und ich ließ ihn gewähren. Johann war ein Teil von uns, ein
Teil von mir, mein Bruder – ich würde ihn nicht allein lassen. Ich hatte andere
hinter mir gelassen. Ich hatte die Liebe meines Lebens aufgeben müssen. Ich
hatte mit ansehen müssen, was Gerechtigkeit in unserer Welt bedeutete. Ihn
würde ich nicht allein lassen, genauso wenig wie Ria.
Das Zucken ließ nach, die Maske fiel,
die Versteinerung bröckelte bis sie schließlich in sich zusammenfiel. Er
ergriff meine Hand, hielt sie fest und ich sah, wie eine einzige, verlorene
Träne seine linke Wange hinunter lief.
Wie ein nasser Sack fiel auch er auf
die Knie und so saßen wir da. Ein zusammengesunkener Haufen von Verbrechern,
die sich gegen das Gesetz gestellt hatten und nun den Preis betrauerten, den
sie dafür gezahlt hatten.
»Wir werden nicht damit aufhören«,
sagte Johann plötzlich nach Minuten der Trauer. Seine Stimme hatte einen tiefen
warmen Klang. Etwas, das mir zuvor noch nie aufgefallen war. Doch der Inhalt
seiner Worte fühlte sich an, wie eine Fuhre eiskaltes Wasser.
Mit entschlossenem Blick sah er mich
an und erkannte im selben Moment meine Zweifel – das war unser Todesurteil. Das
konnte er nicht ernst meinen.
Schließlich war es Ria, die meinen
Empfindungen Ausdruck verlieh.
»Bist du den wahnsinnig! Du hast doch
gesehen, was sie mit ihm gemacht hat!«, sagte sie mit tränenerstickter Stimme.
»Wir werden sein Andenken in Ehren
halten. Ich werde nie wieder zu dem werden, der ich einst war. Das habe ich ihm
versprochen. Mögen sie uns doch holen! In der Zwischenzeit haben wir mehrere,
vielleicht sogar Hunderte vor einem falschen Schicksal bewahrt. Und sollten sie
uns holen, dann war es das wert.«
Ich konnte kaum fassen, was Johann da
soeben gesagt hatte. Die Worte schienen ihm neue Kraft zu schenken und richtete
sich auf. Mit Stolz geschwollener Brust und tiefster Entschlossenheit blickte
er auf uns beide herab.
»Und du Robert«, sprach er weiter und
reichte mir nun seinerseits die Hand. »Du wirst uns den Weg weisen.«
Was um Himmels Willen war in ihn
gefahren?
Ich hoffte darauf, dass Ria wieder
das Wort ergreifen würde. Dass sie ihm klar machte, wie schwachsinnig das alles
war. Aber als ich sie ansah, erblickte ich nicht mehr den Zweifel, den ich
empfand.
Behände wie eine Katze sprang sie auf
und stellte sich mit verschränkten Armen neben Johann. Ihre Wangen waren noch
immer nass und ihre Tränen glitzerten im Schein des Kaminfeuers. Aber ihre
Augen funkelten, glühten regelrecht. Ihr Feuer war als kleine Flamme zurückgekehrt.
Das Feuer, das in ihr loderte und ihrem Temperament Ausdruck verlieh, war als
kleine Flamme zurückgekehrt.
Entschieden, entschlossen, beschlossen.
War ich denn der Einzige der sah,
welchen Unsinn sie hier forderten? Ich war dabei gewesen, ich hatte es direkt
mit angesehen. Vielleicht hatten sie hinter einem Fenster, geschützt und
behütet, alles beobachtet, aber ich war dabei gewesen.
Sie würden uns töten! Sie würden uns
auslöschen, schneller als wir das Alphabet aufsagen konnten!
Unwillig schüttelte ich den Kopf. Das
war ein Selbstmordkommando. Und selbst wenn ich es gewollt hätte, ich sah es nicht. Ich konnte nicht sehen, was Richard gesehen hatte. Ich hatte versucht,
hinter das ungeschriebene Geheimnis der Liste zu blicken, aber es blieb mir
verwehrt.
Ich sah immer nur Namen – Schicksale
– den Tod. Keine Antwort.
Noch immer hatte Johann die Hand nach
mir ausgestreckt. Noch immer stand er mit geschwollener Brust da und es war
fast so, als wäre das Feuer von Ria wie ein Flächenbrand auf ihn übergegangen.
»Ich kann es nicht«, stotterte ich
und merkte selbst, wie meine Barriere gegen das Unmögliche bröckelte. »Selbst
wenn ich es wollte, ich kann es nicht.«
Ein verschmitztes Lächeln breitete
sich auf Johanns Lippen aus. Noch nie hatte ich solch einen Ausdruck bei ihm
gesehen. Aber dass er so entschlossen reagieren könnte, hätte ich bis vor wenigen
Minuten schließlich auch nicht von ihm erwartet.
»Oh doch, du kannst es. Er wusste es,
ich weiß es. Wir werden an deiner Seite sein und du wirst uns den Weg weisen.«
»Das ist purer Wahnsinn!«, raunte ich
und doch
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