Schatten der Gegenwart (Für Immer & Länger)
sie ließ mich in dieser anormalen Position
verharren. Wie den Kopf einer Puppe drehte sie nun den meinen ein Stück, damit
mein Blick genau auf den vor mir knienden Richard fiel.
Sie würde ein Exempel statuieren und
ich war ihr Zeuge. Sie würde ihn auslöschen – und bei dem Gedanken ihn zu
verlieren, den Mann der mich eingeweiht hatte, der immer wieder versucht hatte,
unserem tristen und grausamen Dasein einen hellen Schein zu verleihen, legte
sich ein schwerer Griff um mein Herz.
»Er war es nicht allein!« Die Worte
kamen ohne mein Zutun über meine Lippen. Es kam aus meinem tiefsten Inneren,
aus meinem Herzen. Es war nicht er, der diese Taten begangen hatte. Wir waren
es gewesen.
»Robert halt dich da raus! Ich habe
die Taten ersonnen, ich werde das Urteil annehmen«, raunte Richard mir hingegen
zu.
Die Fremde hielt in ihrer Bewegung
inne und ließ ihren Blick zwischen ihm und mir hin und her pendeln.
»Wie köstlich«, lachte sie auf und
schlug ihre Hände ineinander. »Dass es so ein Spektakel werden würde, hatte ich
nicht erwartet. Der gleißende Ritter hat tatsächlich einen Knappen gefunden.«
»Er hat damit nichts zu tun. Es waren
meine Instruktionen, denen er gefolgt ist«, presste Richard hervor und ich
konnte sehen, wie der unsichtbare Griff um seine Brust immer fester wurde.
»Ach Richard«, säuselte sie und trat
direkt vor ihn. Mit einem Augenwink zuckte sein Körper nach oben, so dass auch
er ihr nun direkt ins Gesicht sah. Schweißperlen rannen ihn die Stirn entlang
und sein gesamter Körper bebte unter dem Druck, der auf ihn ausgeübt wurde. »Meinst
du denn nicht, dass ich das nicht längst weiß? Du enttäuscht mich.«
Ich sah, wie ihre Arme langsam nach
vorn glitten, um seinen Kopf in beide Hände zu nehmen. Mit aller Kraft
versuchte ich mich gegen die Fesseln, gegen das Gewicht zu stemmen. Ich wollte
meine Stimme erheben, ich wollte eingreifen, ich wollte dem ein Ende setzten.
Doch ich kam keinen Millimeter von der Stelle und meine Stimme blieb stumm.
»Ich bin das Recht. Ich bin das
Gesetz. Ich bin das Gleichgewicht«, sprach sie in melodischem Rhythmus. Ihr
Blick war starr auf Richard gerichtet, dessen Gesicht hilflos in ihren Händen
ruhte.
Pulsierend, immer stärker, blendend,
alles überstrahlend leuchtete ihre helle Seite auf. Sie glühte regelrecht, so
gleißend war das Licht, das von ihr ausging.
Und mit dem Licht vertrieb sie jeden
Schatten. Ihre dunkle Seite wurde immer kleiner, bis sie schließlich ganz
erlosch – und nicht nur ihr Schatten war getilgt – auch der von Richard. Es
dauerte keine zehn Sekunden und er sackte leblos zu Boden.
Ein Lächeln stahl sich über das
Gesicht der gleißenden Frau, die ich nun kaum mehr ansehen konnte, so sehr war
ich von ihrem Licht geblendet. Wie ein Leuchtturm stand sie in dem dunklen
Garten und überstrahlte selbst ihre fünf hellen Begleiter. Ein Leuchtfeuer, das
das Urteil vollstreckt hatte.
»Lass es dir eine Lehre sein. Ich bin
das Recht. Ich bin das Gesetz und allein ich entscheide darüber, was gut für
das Gleichgewicht ist. Dies war unsere erste Begegnung. Du hast gesehen, was
bei einer Zweiten passiert.«
Es waren ihre letzten Worte, die in
meinen Ohren erklangen. Dann waren sie verschwunden. Genauso plötzlich, wie sie
erschienen waren.
Als hätte jemand die Seile einer
Marionette durchgeschnitten, fiel mein Körper willenlos nach vorn und ich
sackte kraftlos ins Gras. All die Anspannung war aus meinen Gliedern gewichen
und es fühlte sich an, als würde mein gesamter Körper aus einer gummiartigen
Masse bestehen, die nicht Willens war, sich auch nur einen Zentimeter zu
bewegen und meinen Gedanken zu gehorchen.
Wir hatten verloren, wir waren
geschlagen, es war vorbei – er war fort. Einen kurzen Blick konnte ich noch auf
Richard erhaschen, bis auch er, genauso wie der Mann im weißen Trainingsanzug,
einfach verschwand.
Ich sah ein letztes Mal in sein
Gesicht. Ein entspannter Ausdruck umspielte seine Lippen. Es war vorbei – er
hatte es überstanden.
Niemals mehr würde er ein Diener des
Todes sein. Niemals mehr, nicht in diesem und auch nicht im nächsten Leben,
würde er dafür verantwortlich sein, das Leben eines anderen zu beenden. Als sei
eine große Bürde von seinen Schultern genommen und als würde er nun endlich mit
sich im Reinen sein, waren seine Gesichtszüge völlig entspannt.
Und dann war er weg – gegangen –
ausgelöscht.
Und wir waren allein.
Kapitel 20
Als ich die Augen aufschlug,
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