Schatten der Gegenwart (Für Immer & Länger)
Klaren. Mach es dir nicht zum Ziel, meiner
Herangehensweise zu folgen – es würde nur für dich und deine Mitstreiter ein
schreckliches Verderben bedeuten.
Ich wünsche euch nur das erdenklich
Beste. Macht nicht die gleichen Fehler, die ich gemacht hatte.
In Liebe, dein Vater – Richard«
Das waren sie also, die letzten Worte
meines Vaters. Mein Vater, von dem ich geglaubt hatte, dass er seit über
zwanzig Jahren tot sei.
* * *
Es war bereits weit nach Mitternacht,
als ich Richards Zimmer verließ.
Stundenlang hatten meine Gedanken um
seine letzten Worte gekreist. Wie konnte ich in all der Zeit nur so blind
gewesen sein? Warum nur hatte ich es nicht gespürt, dass uns mehr verband als
das bloße Schicksal? So viele Dinge waren unausgesprochen geblieben und nie
wieder würde sich die Möglichkeit eines offenen Austauschs ergeben.
Nachdem ich den ersten Schock
überwunden hatte, hatte ich mir seine Unterlagen genauer angesehen. In all
seiner Weitsicht fanden sich auf seinem Computer alle nötigen Informationen die
es bedarf, um unseren bisherigen Weg weiter zu bestreiten. Richard hatte eine
detaillierte Auflistung dessen aufgestellt, was es bei der Suche nach weiteren
Opfern zu beachten galt. Schritt für Schritt hatte er alles niedergeschrieben
und nun, in dem Moment, in dem ich das wusste, was er wusste, offenbarte sich
mir das Geheimnis der Liste.
Noch immer war es die Suche nach der
Nadel im Heuhaufen aber nun kannte ich zumindest deren Form und Farbe. Die Zeit
würde zeigen, ob ich seine Worte richtig verstanden hatte.
Beinah noch interessanter war der
Inhalt der Bücherregale gewesen. Unmengen an historischen Schriften offenbarten
das, was wir wirklich waren. In seinem Fundus gab es historische Abhandlungen
über bisherige Schandtaten unserer Art und immer wieder verschlug es mir bei
dem Ausmaß die Sprache. Die Spanische Grippe, der Untergang der Titanic, der
dreißigjährige Krieg, die Pest – dies alles war nur ein Bruchteil dessen, was
der Hunger nach Leben ausgelöst hatte.
Auch unserem Gegenstück, den Anderen ,
waren einige Bände gewidmet. Ich überflog die meisten von ihnen nur kurz. Ich
würde, sofern wir uns geschickt anstellten, noch genug Zeit haben, alles
intensiver zu studieren.
Müden Schrittes und den Kopf
vollgestopft mit zu vielen Informationen ging ich die Treppe hinunter ins
Wohnzimmer.
Während Ria auf dem Sofa herum lümmelte,
saß Johann am Esstisch und wetzte sein Taschenmesser. Wie auf ein Zeichen
blickten beide zu mir auf.
»Und hast du es jetzt auch endlich
kapiert?« Ria hatte in der Zeit meiner Abwesenheit anscheinend wieder zu ihrer
alten Stärke gefunden und das Temperament hatte ihre Stimme zurückerobert.
Nur langsam begriff ich, was sie da
soeben gesagt hatte.
»Madre Mia! Jetzt schau nicht wie ein
Schaf! Es war ja kaum zu übersehen!«
»Du hast es also auch gewusst?«
Ungläubig sah ich zwischen Ria und Johann hin und her. War ich denn der einzig Unwissende
gewesen? Ausgerechnet ich, den es doch am meisten etwas anging?
»Ihr Männer seht aber auch wirklich
manchmal den Wald vor lauter Bäumen nicht.«
Immer noch kopfschüttelnd ging ich zu
einem der Sessel, der einladend seine Lehnen nach mir ausstreckte.
Johann räusperte sich und stand von
seinem Platz auf. Sein T-Shirt spannte sich um seine muskulösen Oberarme. Eine
innere Anspannung schien ihn zu beherrschen.
»Und was werden wir jetzt tun?«,
fragte er ohne ein weiteres Zeichen seiner Mimik.
Ich verschränkte die Arme und lehnte
mich in dem Sessel zurück, so dass dieser ein Stück nach hinten nachgab. Ich
ließ die Worten, die Bitten meines Vaters nochmals kurz Revue passieren.
Es gab nur eine einzige Antwort
darauf.
»Wir werden das tun, was er am Wenigsten
gewollte hätte. Wir machen weiter.«
Teil
III
»Vor
der Wirklichkeit kann man seine Augen verschließen, aber nicht vor der
Erinnerung.«
(Stanislaw
Jerzy Lec)
Kapitel 22
3 Wochen. Das waren nur 21 Tage, nur
504 Stunden – aber über eine Million Sekunden. Es kam mir vor wie tausend
Jahre. Tausendjährige Gefangenschaft in der Einöde des Seins.
Ich lebte. Ich konnte atmen, konnte
schlafen, konnte denken und doch war ich tot. Ein Teil von mir, der Großteil
von mir, war gestorben und ich war nur noch eine leere Hülle, die sich ohne
jegliches Gefühl auf der Suche nach dem erlösenden Ende durch die Zeit schlich.
3 Wochen – 21 Tage – 504 Stunden. So
lange war ich schon allein, hatte ihn nicht mehr
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