Schatten der Gegenwart (Für Immer & Länger)
gesehen, hatte ihn nicht mehr gehört,
hatte ihn nicht mehr gespürt.
Er war verschwunden, aus meinem
Leben, aus meinem Geist, aus meinen Sinnen und hatte ein unüberwindliches Loch
zurückgelassen. Er hatte mir alles genommen. Überall nur Leere.
Ich schlief und träumte nie. Ich
lachte und empfand nichts. Ich schrie und war stumm.
Das einzige Gefühl, das mich immer
wieder heimsuchte, war der Schmerz – unerbittlich, stechend, zerreißend, mächtig.
Nur er war im Stande, die Leere zu füllen und mir für ein paar Sekunden das
Gefühl zu schenken, am Leben zu sein.
Ich wusste nicht, was ich die letzten
drei Wochen getan hatte. Eine Sekunde war wie die andere – flüchtig und
unendlich. Es hatte keine Bedeutung, was ich die letzten 21 Tage getan hatte. Alles
hatte keinerlei Bedeutung mehr.
Ich lag auf dem Boden und starrte an
die Decke. Die kalten Fliesen ließen meinen Körper erzittern. Noch ein Gefühl,
das mich durchdrang – Kälte.
Es klopfte.
Ich starrte zur der Standuhr hinauf.
Mächtig und allüberblickend stand sie vor mir. An ihrem Sockel waren kleine
kunstvoll geschnitzte Schnörkel erkennbar. Waren das auch 21?
Es klopfte.
Ich legte meinen Kopf auf die Seite
und die Kühle der Fliesen umfing meine Wangen. Ich hörte mein Herz schlagen und
wartete darauf, dass es für immer schweigen würde.
Es hämmerte.
Direkt vor mir lagen ein paar Haare,
dunkle kurze Haare. Waren es drei?
Kein weiteres Klopfen, es war wieder
still und die Besucher waren gegangen, genauso wie die Abende zuvor. Wer es
wohl diesmal gewesen war? Wahrscheinlich Alexander. Immer wenn er es war, gab
es nur das Klopfen. Er sagte nie ein Wort. Wäre es Jessica gewesen, hätte sie
mich mit ihrer Stimme malträtiert. Das ich aufmachen solle, dass sie sonst die
Polizei rufen würde. Das war schlimmer als das Klopfen. Das konnte man nicht so
leicht ausblenden. Ich hatte nie aufgemacht und sie hatte nie die Polizei
gerufen.
Ob sie es wusste? Ob sie wusste, dass
er weg war? Wusste überhaupt irgendjemand, dass er weg war? Konnte sich noch
jemand an ihn erinnern? Konnte ich mich noch an ihn erinnern?
Ich sah wieder auf die Haare vor mir.
Waren sie wirklich so lockig gewesen? Waren es nicht eher wilde Wellen, die
sein Gesicht umspülten hatten? Und waren sie schon immer so schwarz? War
es nicht eher ein dunkles Braun? Nahm es nicht die Farbe von Teakholz an, wenn
er in der Sonne stand?
Ich war mir nicht sicher. Ich war mir
nicht mehr sicher – nach 504 Stunden.
Schweren Herzens verließ ich die
vertraute Kälte. Ich musste ihn sehen. Ich brauchte Gewissheit. Robert hätte es
mir einfach machen können. Ein Blick auf die Fotos unserer Hochzeit, unsere
Urlaube, unsere gemeinsame Zeit – und ich hätte Gewissheit gehabt. Aber das
hatte er nicht gewollt. »Keines dieser Bilder könnte dir je gerecht werden und
wozu auch? Ich hab dich ja immer bei mir. Warum soll ich eine Kopie ansehen, wenn
ich das Original haben kann?«
Die Erinnerung an seine Stimme war
nur noch ein blasses Echo. Ich wusste, wie sie wirklich klang. Aber der Gedanke
an sie schmerzte zu sehr und so hatte ich versucht, die Erinnerung an seine
Stimme in den Tiefen meines Geistes zu vergraben.
Deshalb schmückte kein einziges Foto
unsere Wohnung – weil er es nicht gebraucht hatte. Aber ich brauchte es und ich
brauchte es jetzt. Einen Beweis, dass seine Haare dunkelbraun schimmerten und
in geschwungenen Wellen fielen.
Ich hatte zwar kein einziges Bild von
uns aufgehangen, aber ich hatte sie immer noch digital auf meiner Festplatte.
Ich könnte sie mir ansehen, sogar ausdrucken, wenn ich es denn wollte, konnte
mir Gewissheit verschaffen. Ich schaltete meinen Laptop an und steckte die
Festplatte ein. Nach einer kurzen Pause verkündete eine kleine Ausschrift, dass
das Gerät nun verwendet werden könne.
Da waren sie, direkt vor mir – alle
Ordner fein säuberlich aufgelistet und mit dem Ort und Zeitpunkt ihres Inhaltes
beschriftet. Ich wählte willkürlich einen aus – unser Urlaub in Ahlbeck vor
einem Jahr. Eine glückliche Zeit. Eine Zeit, in der wir noch eine Familie
gründen wollten.
Ich erwartete das Meer, den Strand,
ihn, mich, uns zu sehen, doch alles was mir der Bildschirm offenbarte, waren
unleserliche Zeichenketten, kein einziges Foto. Verwirrt wählte ich einen
anderen Ordner aus, doch an dem Ergebnis änderte sich nichts. Alles war eine
Reihe von nichtssagenden Zeichen und Zahlen, chaotisch und unkenntlich. Hatte
ich bei dem Kopieren der Dateien etwas
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