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Schatten der Gegenwart (Für Immer & Länger)

Schatten der Gegenwart (Für Immer & Länger)

Titel: Schatten der Gegenwart (Für Immer & Länger) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maria Norda
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entlang. Der Tisch erinnerte mich an die alte Uhr, dieses Kunstwerk
aus handwerklicher Schnitzkunst, die ich gegen Emilias Willen damals in unseren
Flur gestellt hatte.
    Der Laptop surrte leise vor sich hin
und auf dem Bildschirm hüpfte ein farbiger Ball von einer Ecke zur anderen. Er
hatte ihn nicht einmal ausgeschalten. So aufgebracht war er gewesen, als er die
langgesuchte Antwort endlich in Händen gehalten hatte und zu uns gestürmt war,
um den Aufbruch zu verkünden. Ich strich mit dem Finger über das Touchpad. Der
Bildschirmschoner verschwand und gab das Fenster für die Passworteingabe frei.
    Verdammter Mist – wie um alles in der
Welt sollte ich jemals sein Passwort knacken? Ich war kein Computerfreak wie
Alexander. Er hätte dies sicherlich binnen weniger Minuten gelöst, aber er war
nicht hier und niemals wieder würde ich ihn um einen Gefallen bitten können.
    Ich untersuchte die Tastatur nach
abgenutzten Buchstaben. Vielleicht würden sie mir einen Aufschluss darüber
geben, welche der Tasten er mehr als die anderen verwendet hatte. Aber alle
sahen gleich aus und die weiße Schrift hob sich bei allen gleich stark von
ihrem schwarzen Untergrund ab.
    Das hier war nicht der erhoffte Weg.
Es brachte mich keinen Schritt weiter. Ich strich meine wilden Haarsträhnen aus
dem Gesicht, während die letzten Sonnenstrahlen meinen Rücken wärmten.
    Also blieben mir noch die umliegenden
Unterlagen. Vielleicht war hier etwas dabei, das zumindest ein bisschen Licht
ins Dunkel bringen würde. Die meisten der verstreut liegenden Blätter waren
Skizzen, Notizen und Kommentare bezüglich der Bande, die wir in Hannover
erledigt hatten. Er hatte den Namen jedes Einzelnen herausgefunden, ihr Leben
studiert, wo sie sich aufhielten, wer sie waren, woher sie kamen – und er hatte
Vermutungen darüber angestellt, was sie als Nächstes tun würden.
    Aber wie war er nur auf sie gestoßen?
Die Namen, die er überall notiert hatte, hatten nicht auf der Liste gestanden.
Dessen war ich mir ganz sicher. Zu lange hatte ich das Pergament angestarrt und
gehofft, dass ich endlich dahinter kommen würde.
    Wut und Zorn stiegen in mir auf. Er
hatte uns einfach allein gelassen, ohne irgendeinen Anhaltspunkt. Er hatte sich
einfach aus dem Staub gemacht, das Urteil klaglos hingenommen und uns blieb
nichts weiter als die Erinnerung an ihn.
    Mein Arm schepperte gegen einen
Stapel umliegender Akten und in weitem Bogen verteilte sich alles über das
Parkett. Die Blätter segelten eines nach dem anderen auf den Boden. Wie in
Zeitlupe glitten sie durch die Luft und sammelten sich auf einem chaotischen
Haufen. Skizzen von Anfahrtsplänen und Lagerhallen, Kopien und Ausdrucke von
Zeitungsartikeln, dicht beschriebene Blätter voller kryptischer Abkürzungen –
und ein Foto.
    Ein Foto, das ich kannte, dass ich
schon einmal gesehen hatte, mehr als ein Mal. Ein Foto, das mir den letzten
Atemzug raubte.
    Ich kannte das Bild in und auswendig,
auch wenn Abzug, der nun zu meinen Füßen lag, vergilbter und ausgeblichener war.
    Es zeigte eine junge Frau. Sie
strahlte über das ganze Gesicht in die Kamera, während das Baby in ihren Armen
versuchte nach einer ihrer Haarsträhnen zu greifen. Ich kannte sie, ich hatte
den Großteil meines Lebens mit ihr verbracht und niemals hatte ich sie
leibhaftig so glücklich gesehen, wie auf diesem Foto.
    Die Frau, die ich kannte, war eine
gebrochene Frau, deren gesamtes Glück für immer aus ihrem Leben getilgt worden
war. Die Frau, die ich kannte, hatte nie wirklich gelacht und war in sich
gekehrt.
    Die Frau, die ich kannte, war meine
Mutter.
    Das Kind in ihren Armen – ich.
    Es hatte nur eine Zeit in dem Leben
meiner Mutter gegeben, in dem sie so fröhlich war, wie auf diesem Foto. Es lag
zu weit in der Vergangenheit, in einer Zeit in der ich noch sehr klein und mein
Vater noch bei uns gewesen war.
    Er war bei einem Autounfall tödlich
verunglückt. So hatten es mir zumindest meine Großeltern erzählt. Meine Mutter
hatte hingegen kein einziges Wort über ihn verloren, nicht eine Silbe war über
ihre Lippen gekommen. Sie hatte geschwiegen.
    Alles um mich herum begann sich zu
drehen. Ich wusste nicht, wo oben und wo unten war. Ich wusste nicht einmal
mehr, wer ich selbst war. Ich war hierhergekommen, um Antworten für unseren
zukünftigen Weg zu erhalten. Stattdessen stellte all dies meine Vergangenheit
in Frage, von der ich nicht einmal ahnte, dass sie irgendetwas hätte ins Wanken
bringen können.

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