Schatten der Liebe
Der einzige, der überhaupt zu bemerken schien, daß irgend etwas mit ihr nicht stimmte, war ihr Vater. »Was hast du, Meredith?« fragte er immer wieder. Noch vor kurzem war ihr größtes Problem gewesen, daß sie nicht auf das College ihrer Wahl gehen konnte. Jetzt schien dieser Punkt völlig nebensächlich. »Gar nichts habe ich«, antwortete sie.
Sie wollte nicht mit ihm darüber diskutieren, was mit Matt in Glenmoor passiert war, und sie hatte auch keine Lust, sich wieder mit ihm zu streiten.
Sechs Wochen, nachdem sie Matt kennengelernt hatte, blieb auch ihre zweite Periode aus, und ihre Angst wandelte sich in blankes Entsetzen. Sie versuchte sich damit zu beruhigen, daß ihr weder morgens noch sonst irgendwann übel war, und sie ließ sich einen Termin für einen Schwangerschaftstest geben.
Fünf Minuten, nachdem sie den Hörer aufgelegt hatte, klopfte ihr Vater an die Tür ihres Schlafzimmers. Sie rief »Herein«, und er kam auf sie zu, einen großen Briefumschlag in der Hand. Absender Northwestern University. »Du hast gewonnen«, sagte er brüsk. »Ich ertrage es nicht länger, wenn du so herumhängst. Geh auf diese Universität, wenn es dir so verdammt wichtig ist. Ich erwarte aber, daß du jedes Wochenende nach Hause kommst. Und darüber lasse ich nicht mit mir handeln!«
Sie öffnete den Umschlag, der die Mitteilung enthielt, daß sie für das Herbstsemester fest eingeschrieben war, und rang sich ein müdes Lächeln ab.
Meredith ging nicht zu ihrem Hausarzt, der auch ihren Vater behandelte, sondern suchte eine Frauenklinik im Süden von Chicago auf, wo sie sicher sein konnte, daß niemand sie erkannte. Der gestreßte Arzt dort bestätigte ihre schlimmsten Befürchtungen: Sie war schwanger.
Meredith nahm den Befund schweigend und wie betäubt zur Kenntnis, aber bis sie wieder zu Hause anlangte, war ihre Benommenheit blanker Panik gewichen. Sie wollte keine Abtreibung, sie konnte sich nicht vorstellen, ihr Baby für die Adoption freizugeben, und sie konnte ihrem Vater nicht mit der Nachricht kommen, daß sie eine ledige Mutter und der jüngste Skandal der Bancroft-Familie werden würde. Es gab nur einen einzigen anderen Weg, und Meredith beschloß, ihn zu gehen: Sie wählte die Nummer, die Matt ihr gegeben hatte. Als niemand abhob, rief sie Jonathan Sommers an und log ihm vor, daß sie etwas gefunden habe, das Matt gehörte, und daß sie es ihm schicken wollte. Jonathan gab ihr Matts Adresse und sagte auch, daß er noch nicht nach Venezuela unterwegs sei. Ihr Vater war nicht in der Stadt, also packte Meredith einen kleinen Koffer, hinterließ eine Nachricht, daß sie ein paar Freunde besuchen wolle, stieg in ihr Auto und fuhr nach Indiana.
Edmunton schien nur aus Schornsteinen, Fabriken und Stahlwerken zu bestehen. Matts Adresse lag in einem Vorort, der ihr nicht weniger trostlos vorkam. Nachdem sie über eine halbe Stunde lang vergeblich nach der angegebenen Straße gesucht hatte, fuhr sie in eine heruntergekommene Tankstelle, um nach dem Weg zu fragen.
Ein fetter Tankwart mittleren Alters kam heraus. Er musterte erst Merediths Porsche und dann sie - auf eine Art und Weise, die ihr Gänsehaut einjagte. Sie zeigte ihm die Adresse, die sie suchte, aber anstatt ihr zu sagen, in welche Richtung sie fahren müsse, drehte er sich um und brüllte über seine Schulter: »Hey, Matt, ist das nicht deine Straße?«
Meredith riß die Augen auf, als ein Mann, dessen Kopf unter der Motorhaube eines uralten Lieferwagens gesteckt hatte, sich aufrichtete und umwandte. Es war Matt. Seine Hände ölverschmiert, die alte, ausgebleichte Jeans zerrissen, sah er genauso aus, wie sie sich einen heruntergekommenen Automechaniker in einer gottverlassenen Kleinstadt vorgestellt hatte. Sie war so erschrocken über sein Aussehen und so entsetzt über ihre Schwangerschaft, daß sie ihre Reaktion nicht verbergen konnte. Er sah es, und das überraschte Lächeln, daß sich auf seinem gutgeschnittenen Gesicht gezeigt hatte, gefror. Seine Stimme klang emotionslos: »Meredith«, sagte er und nickte ihr kurz zu. »Was führt dich her?«
Anstatt sie anzublicken, konzentrierte er sich darauf, seine Hände an einem alten Lappen abzuwischen, den er aus der Hosentasche zog. Meredith hatte das Gefühl, er habe den Grund ihres Hierseins erraten, und das sei für seinen plötzlich erstarrten Gesichtsausdruck verantwortlich. Sie wünschte, sie wäre tot oder wenigstens niemals hierher gekommen. Er war offensichtlich nicht gewillt, ihr zu
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