Schatten der Vergangenheit (Junge Liebe) (German Edition)
besorgt und irgendwie kratzig, was mich jetzt doch aufhorchen lässt, nachdem ich ihre Begrüßung einfach schlicht ignoriert und lieber meinen Gedanken nachgehangen habe. Weil unsere Unterhaltungen sozusagen meist nach demselben langweiligen Prinzip ablaufen und eigentlich völlig unsinnig sind. Sie fragt nach meinem Befinden, dem Job und was ihr noch so Belangloses einfällt. Dann verfällt sie für kurze Zeit in die Bettelphase und liegt mir in den Ohren, doch wieder nach Hause zu kommen. Wobei sie geflissentlich ignoriert, dass ich damals nicht grundlos weggegangen bin und mir hier inzwischen ein neues Leben aufgebaut habe. Mein Leben.
„Ja, Mum, tut mir leid, ich bin noch nicht ganz wach. War ein bisschen spät gestern“, bemühe ich mich zu entschuldigen und vernehme am Ohr nur ihr unterdrücktes Seufzen, ehe sie erneut auf mich einredet.
„Hör zu, Benjamin. Ich hab dir vorgestern schon erzählt, was mit Ingrid ist. Nun ja, ihr Zustand hat sich sehr verschlechtert und die Ärzte geben uns nicht viele Hoffnungen. Dein Vater ist ziemlich durch den Wind deswegen und ja, ich weiß, er ist dir egal, aber Oma Ingrid hast du doch immer sehr gemocht“, redet sie in einer seltsamen Tonlage auf mich ein, als wäre ich ein dreijähriges Kind, dem man erklärt, dass man andere Kinder nicht mit der Sandschaufel verhaut, was meine Geduld langsam mächtig überstrapaziert. Weshalb ich sie mit einem harschen „Komm zum Punkt, Mum“ unterbreche und sie erneut tief seufzt, als wäre meine Ungeduld eine reine Strapaze.
„Siemöchtedichnochmalsehen“, sprudeln die Worte so schnell aus ihr heraus, dass mein Gehirn einen Moment braucht, um sie zu sortieren, ehe mir die Bedeutung und Tragweite dieses einen kleinen Satzes vollkommen bewusst wird und ich einen Augenblick lang darauf warte, einfach aus einem schlechten Traum aufzuwachen. Was leider nicht passiert.
„Nein“, ist das erste, was mir über meine Lippen kommt, mit einer Bestimmtheit, die keine Widerrede duldet und selbst in meinen Ohren wie die Äußerung eines gefühlskalten, abgebrühten Menschen klingt. Dabei ist es nicht mal meine Oma, wegen der ich so ablehnend reagiere, im Gegenteil. Sie hat immer zu mir gehalten und mich in Schutz genommen, wenn mein werter Vater mal wieder der Meinung war, mir etwas mehr Männlichkeit beibringen zu müssen. Sei es mit Fußball, was ich gehasst habe, irgendwelchen Töchtern von seinen Arbeitskollegen, die er regelmäßig angeschleppt und mich zu diversen Verabredungen gezwungen hat, oder letztendlich die Schläge, mit denen er versuchte, mich ein wenig abzuhärten, weil ich für einen Jungen in seinen Augen viel zu weich war. Doch auch er ist nicht der Grund, weil mein Erzeuger, wie ich ihn bevorzugt bezeichne, mir gelinde gesagt, am Arsch vorbeigeht.
„Aber …, Benjamin, ich weiß, dass du nie wieder hierher zurückkommen wolltest, auch wenn ich es bis heute nicht verstehe. Ich akzeptiere deine Entscheidung durchaus, aber hier geht es ausnahmsweise mal nicht um dich, sondern um deine Großmutter. Und deine Freunde von früher würden sich sicher auch freuen, dich mal wieder zu sehen. Sie fragen ja auch immer wieder nach, wie es dir geht und was du so machst“, redet sie mit einer Dringlichkeit auf mich ein, als müsse mir doch selber klar sein, dass es keine andere Lösung gibt und es sicher eine reine Freude wäre, mal für ein paar Stunden oder sogar Tage wieder in meine Vergangenheit einzutauchen. Wobei genau dies der springende Punkt ist. Ich habe das alles absichtlich hinter mir gelassen.
„Wie stellst du dir das vor? Was glaubst du, wie lange es dauert, bis wir aufeinander losgehen? Ich bin nicht mehr der Junge von damals, der sich alles gefallen lässt. Willst du es wirklich auf eine Auseinandersetzung ankommen lassen?“, versuche ich mich hinter dem Missverhältnis mit meinem Erzeuger zu verstecken und hoffe inständig auf ihre Einsicht, dass sie bei der von mir prophezeiten Möglichkeit vielleicht doch einlenkt. Immerhin ist sie dermaßen harmoniesüchtig, dass sie mich damals, mit gerade mal sechzehn Jahren, einfach so hat ziehen lassen. In eine große fremde Stadt und ein abenteuerliches Leben, von dem ich bis dahin keine Ahnung hatte. Und das alles nur des lieben Friedens wegen. Dabei würde man doch annehmen, dass eine Mutter viel eher ihren Mann fortschicken würde, anstatt ihr eigenes Kind, wofür sie mir wahrscheinlich sogar noch sehr dankbar war, weil ich ihr schließlich diese Entscheidung
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