Schatten Der Versuchung
du ja doch zu etwas zu gebrauchen.« Sie zeigte auf den Rand des Moors. »Warte dort drüben. Ich will nicht, dass du um mich herumkreiselst und mich nervös machst.« Sie wartete, bis er sich zurückgezogen hatte, bevor sie ihren nächsten Schritt machte und dabei den linken Fuß zuerst setzte.
Vikirnoff verschränkte die Arme vor der Brust und setzte eine ausdruckslose Miene auf. »Gut zu wissen, dass du endlich zu der Erkenntnis kommst, dass ich zu etwas zu gebrauchen bin.« Seine Fäuste ballten sich so stark, dass seine Knöchel weiß hervortraten, und seine Muskeln schmerzten von der Anspannung in seinem Inneren, die ständig zunahm.
Hinter ihnen im Wald begannen die Bäume sanft hin und her zu schwingen, zuerst fast unmerklich, aber Vikirnoffs scharfes Gehör fing das leise Rascheln von Kiefernnadeln auf. Er fuhr sofort herum. Nur wenig Mondlicht fand durch die dichten Bäume, und die Äste waren mit einem gespenstischen silbrigen Schimmer überzogen. Die Nadeln ähnelten knochigen Fingern mit scharfen Nägeln, die sich zum Sumpf hin ausstreckten. Vikirnoffs Unbehagen wuchs, und er stellte sich so hin, dass er sowohl den Wald als auch Natalya auf ihrem Weg durch den Morast im Auge behalten konnte.
Sie machte einen zweiten Schritt mit dem linken Fuß und schwankte dabei bedrohlich. Vikirnoff blieb beinahe das Herz stehen. Natalya fand ihr Gleichgewicht wieder und wagte noch ein paar Schritte, jeden davon mit mehr Selbstvertrauen, sodass er überrascht war, als sie plötzlich abrupt stehen blieb.
»Was ist los?«
»Ich weiß nicht.« Ihre Hand wanderte zu ihrem Schwert, als wollte sie die beruhigende Nähe der Waffe spüren. »Hast du etwas gehört?«
»Der Wind?« Aber das war es nicht. Es war nahezu windstill. Stimmen erklangen in der Ferne, jammernd, klagend und gedämpft, doch deutlich zu hören.
»Schön wär's. Ich wette, es ist etwas Gruseliges«, verkündete Natalya. »Das Geräusch wird mit jedem meiner Schritte lauter. Und schau dir mal die Wasseroberfläche an!«
Vikirnoff trat näher an den Rand des Sumpfs. Der Boden schwankte, und etliche Pflanzen vibrierten bei der Bewegung. Er blieb sofort stehen und konzentrierte sich eher auf die Wasseroberfläche als auf die Pflanzen. Es war ein stehendes Gewässer und hätte ruhig sein sollen, aber es bewegte sich in seltsamen Mustern, nicht schnell oder abrupt, sondern so langsam, dass es kaum zu sehen war, doch als er genauer hinschaute, schienen ihn Gesichter anzustarren.
»Sind Leichen im Sumpf?«
»Igitt!« Natalya wich zurück und starrte aufs Wasser. Ihre Hand schloss sich fest um den Schwertgriff. »Ist ja ekelhaft! Daran habe ich überhaupt nicht gedacht. Ich glaube eigentlich nicht, dass hier wirklich Leichen im Wasser liegen, doch jetzt habe ich trotzdem Angst, dass irgendetwas Totes mich am Knöchel packt und hineinzieht.« Einen Moment lang war es ganz still. Natalya beugte sich vor und rieb mit den Fingern über das Mal an ihrem Knöchel. »Glaubst du, er ist hier?«
Vikirnoff wusste, dass sie Razvan meinte. »Lass uns von hier verschwinden, Natalya. Du musst das nicht machen.« Er bewegte sich einen Schritt in ihre Richtung und sank sofort bis zu den Knöcheln ein.
»Nicht!«, rief sie scharf und schüttelte entschieden den Kopf. »Ich muss es machen. Darin waren wir uns beide einig. Wenn ich es jetzt nicht schaffe, komme ich nie wieder her. Ich brauche nun von dir eine kräftige Dosis Zuversicht.«
Er fluchte leise und unterdrückte den Wunsch, in die Luft aufzusteigen und Natalya aus dem Sumpf herauszuholen. »Du verlangst nicht gerade viel von mir, was ?«
»Weißt du, als du mit diesem Zeug über Gefährten des Lebens angefangen hast, habe ich nicht groß protestiert, weil du irgendwie so niedlich warst.« Natalya riss ihren Blick von einem fahl schimmernden Gesicht mit weit aufgerissenem Mund los, machte vorsichtig noch ein paar Schritte und blieb nicht weit von der Stelle, wo ihr Vater das Buch versteckt hatte, stehen. »Damals war mir nicht klar, wie unglaublich herrschsüchtig du bist oder wie mürrisch du sein kannst.«
»Niedlich? Und du hast nicht groß protestiert?«, wiederholte Vikirnoff. »Ist dir bei all deinen Spätfilmen mal ein Typ namens Pinocchio begegnet?«
Natalya brach in Gelächter aus. »Ausgerechnet den Film hast du gesehen! Das sieht dir wieder mal ähnlich.«
Er grinste sie an. »Eigentlich habe ich ihn nicht gesehen. Ich habe das Buch gelesen, doch ich wusste, dass es verfilmt worden ist und die
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