Schatten Der Versuchung
schau die Welt unter uns an und genieße den Augenblick.
Natalya hob ihr Kinn und ließ ihre Tränen im Wind trocknen. Nenn mich bloß nicht Kleinchen!
Sein Lachen war leise und sinnlich. Sie spürte es bis in ihre Magengrube und weiter unten eine vibrierende Hitze, die sich in ihrem ganzen Körper ausbreitete und zu einem ziehenden Schmerz wurde. Den Fehler werde ich bestimmt kein zweites Mal begehen.
Sie schaute nach unten auf die zerklüftete Landschaft, über der sie ihre Kreise zogen. In den Berg waren einige tiefe Schluchten eingeschnitten, und Natalya konnte mehrere Höhleneingänge entdecken. Die Wiesen erstrahlten selbst in der Abenddämmerung in einem satten Grün. Überall blühten Wildblumen, in den Senken und an den Felswänden und in dichten Polstern auf den Hochplateaus. Als Vikirnoff weiter nach unten ging, konnte sie Bodenvertiefungen sehen, in denen sich Wasser gesammelt hatte, sodass sich ein Hochmoor gebildet hatte. Dichtes Moos wuchs um Birken und Föhren, in einem lebhaften Grün, das vom trüben Braun etlicher kleiner Moorseen noch betont wurde.
Wie schön es hier ist.
Ja, aber ich empfinde Unruhe. Spürst du nicht die unterschwellige Warnung in der Luft, wenn ich in den Nebel in der Nähe des Berggipfels eintauche ?
Vikirnoff zog noch einen Kreis, um direkt in die weißen Nebelschwaden, die um den Gipfel hingen, hineinzufliegen. Natalya versteifte sich, als sie die feinen Schwingungen einer Magie wahrnahm, die sich wie ein feines Netz von Furcht um sie legten. Wir müssen in der Nähe des Eingangs sein.
Vikirnoff landete auf einem Felsvorsprung, indem er sich mit seinen Krallen an das Gestein klammerte, und streckte höflich einen Flügel aus.
Natalya rutschte daran hinunter und landete auf ihren Füßen. Die Erde schien unter ihr zu beben, als sie sich wieder auf festen Boden einstellte. »Das ist eindeutig der richtige Ort. Der Wunsch, möglichst schnell von hier zu verschwinden, ist noch ausgeprägter als vorher.«
Vikirnoff, der wusste, dass das Schrumpfen von Muskeln und Knochen eine Qual sein würde, wechselte seine Gestalt ein Stück von Natalya entfernt. Er beeilte sich, weil er keine Zeit zum Nachdenken haben wollte, und kleidete sich gleichzeitig an. Blutflecken sprenkelten sein weißes Hemd, und als er sich mit der Hand über die Stirn fuhr, war die Innenfläche mit Blut beschmiert. Mit einem unterdrückten Fluch atmete er tief ein, um den Schmerz zu überwinden, und nahm eine weitere rasche Heilung an sich vor, um die Schäden zu reparieren, die das Formwandeln verursacht hatte. Sowie er sich davon überzeugt hatte, dass keine Blutspuren mehr an seinem Körper oder seiner Kleidung waren, ging er zu dem Felsbrocken zurück und umrundete ihn vorsichtig, um zu überprüfen, ob irgendwo eine verborgene Falle lauerte.
Natalya beobachtete Vikirnoff genau, als er näher kam. Er taumelte leicht und legte unbewusst eine Hand auf seine Brust, aber er fing sich schnell wieder und ging weiter, als wäre mit ihm alles in Ordnung. Er strahlte Gefahr aus, ohne sich dessen bewusst zu sein. Wenn sie nicht gewusst hätte, dass er schwer verletzt war, hätte sie es nie vermutet.
Sie seufzte. Sie hatte so viele Dinge mit ihm zu klären, vor allem diesen lächerlichen Zauber, der sie aneinanderschmie-dete, aber das konnte sie auf später verschieben und einstweilen mit ihm zusammenarbeiten – wenn sie ihm trauen konnte. Ihr Instinkt sagte ihr, dass sie Vikirnoff bedingungslos vertrauen könnte, doch in ihrem Inneren herrschte Chaos, und die Schuldgefühle und die anklagende Stimme ihres Bruders ließen sich nicht mehr los.
»Was ist denn, Natalya?«
Seine Stimme rührte direkt an ihr Herz. Genau das war das Problem. Diese Stimme und diese Augen und dazu die Tatsache, dass sie so stark auf ihn ansprach. »Du hast in mein Bewusstsein geschaut, um herauszufinden, wer mich unter Druck setzt, stimmt's?«
»Ja.« Er würde sie nicht täuschen. Er sah keinen Grund dafür und ebenso wenig einen Grund, sich zu entschuldigen. Wenn er sie beschützen sollte, musste er wissen, wer sie einem so starken Zwang aussetzte. »Ich hatte nicht viel Zeit, um Antworten zu finden, aber ich bin noch nicht fertig.«
Natalya holte tief Luft. Was sie vorhatte, könnte schlimmer als alles andere sein, was sie je in ihrem Leben getan hatte. »Habe ich Erinnerungen an Xavier? Meinen Großvater? An etwas anderes als die Geschichten, die mir mein Vater erzählt hat, meine ich.«
Vikirnoff lehnte sich an einen Felsen
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