Schatten Der Versuchung
und studierte ihr Gesicht. Ihr Blick war scharf und unverwandt und ließ sich nichts entgehen. »Das ist eine merkwürdige Frage, Natalya. Warum willst du das wissen? Wie könntest du Erinnerungen an ihn haben? Xavier ist schon seit sehr langer Zeit tot.«
»Ich weiß nicht. Manchmal träume ich von ihm. Er schleicht sich in meine Träume ein, und wenn ich mich im Wachzustand an meine Kindheit mit Razvan zu erinnern versuche, schaffe ich es nicht. Alles ist weit entfernt und verschwommen und voller Lücken. Ich befürchte schon seit einiger Zeit, dass meine Erinnerungen an ihn verschüttet sind.« Sie zwang sich, ihn anzuschauen, obwohl sie Angst hatte, er könnte sie für verrückt halten.
Vikirnoff schwieg. Obwohl sie ihm gegenüber unsicher war, versuchte sie ihm etwas Wichtiges anzuvertrauen, aber er erkannte vor allem die Bedeutung ihrer Worte für sein Volk. Xavier war ein Todfeind der Karpatianer. Er hatte gemordet und entführt und einen Krieg angezettelt, und das alles aus einem einzigen Grund: um Unsterblichkeit zu erlangen. Falls Xavier noch am Leben war, würde er einen weiteren Schlag gegen das Volk der Karpatianer planen. Es schien kaum möglich, doch es hatte Vikirnoff immer beunruhigt, dass kein Leichnam, der die Meldung von Xaviers Tod hätte bestätigen können, gefunden worden war. Jetzt musste er seine Worte sorgfältig wählen, um Natalya nicht zu erschrecken. Ihm war klar, dass es nicht seinem Wesen entsprach, seine Gefährtin mit süßen Worten einzulullen. Er konnte ihr nur die Wahrheit bieten.
»Hast du Angst, Xavier könnte noch am Leben sein? Dass vielleicht er es ist, der dich diesem Zwang aussetzt? Und dass möglicherweise er deine Erinnerungen manipuliert hat?«, fragte er.
Natalya seufzte. »Ich weiß es nicht. Ich kann mich nur noch an die Geschichten erinnern, die mir mein Vater über ihn erzählt hat, aber ich habe Träume, und sie sind alles andere als angenehm. Noch dazu verschwand mein Vater, als ich zehn war. Razvan und ich können nicht allein gelebt haben, doch ich kann mich nicht an diese Zeit erinnern oder daran, wer für uns gesorgt hat. Jedes Mal, wenn ich davon träume, taucht Xavier in meinem Traum auf.«
»Glaubst du, dass er noch lebt?«
Natalya presste eine Hand auf ihren brennenden Magen. Sie hatte den Verdacht, dass Xavier am Leben war, ja, aber das war völlig verrückt. Sie hatte diesen Verdacht schon seit einiger Zeit. Und sie befürchtete, dass Xavier nicht der wundervolle Mann war, als den ihre Familie ihn dargestellt hatte. Die Träume, in denen Razvan und sie von ihrem Großvater vieles erdulden mussten, waren oft düster und beklemmend, und im Wachzustand durchzuckten sie manchmal flüchtige Erinnerungen, die keinen Sinn ergaben, Erinnerungen an eine schemenhafte Gestalt, die ihr Angst einjagte. Sie fürchtete, jener Mann könnte Xavier sein.
»Ich weiß es nicht«, gab sie widerwillig zu. »Ich weiß, dass er einer der dunklen Magier war und das Gedächtnis anderer manipulieren konnte, doch falls er noch lebt und nicht will, dass ich mich an ihn erinnere, warum hat er dann nicht einfach meine Erinnerungen an ihn völlig aus meinem Gedächtnis gelöscht? Was könnte er mit einer Beeinflussung meiner Erinnerungen bezwecken?«
Vikirnoffs dunkler Blick wanderte über ihr Gesicht und sog es förmlich auf. Natalya erschien ihm so schön mit ihrem starken Willen und ihrer kämpferischen Art, aber wenn sie ratlos und verloren klang, brach es ihm das Herz. »Vielleicht konnte er es nicht. Du besitzt große innere Stärke, Natalya. Könnte es nicht sein, dass er dein Gedächtnis bis zu einem gewissen Grad manipuliert hat, jedoch nicht in der Lage war, es vollständig zu löschen?«
Sie sah so niedergeschlagen und verletzlich aus, dass er einen Schritt näher trat und ihr Gesicht in beide Hände nahm. »Ich glaube, du bist für jeden, der dir begegnet, eine Überraschung. In dir schlummern mehr Macht und Stärke, als dir bewusst ist. Ich erkenne es in dir. Und ich fühle es, wenn ich dir nahe bin. Ganz gleich, wie viel Macht dein Großvater hat, ich bezweifle, dass er dich vollständig beherrschen könnte, wenn er es wollte, weil du eine viel zu starke Persönlichkeit bist.«
Tränen glitzerten in ihren Augen und verfingen sich in ihren Wimpern. »Das ist das Netteste, was man je zu mir gesagt hat.«
»Es ist einfach die Wahrheit.« Er beugte sich zu ihr vor, sodass sein warmer Atem über ihre Wange strich. »Es bricht mir das Herz, wenn du weinst,
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