Schatten der Wahrheit
Erfahrungen seiner gesamten ersten Dienstzeit zählte, schlimmer noch als das Rückzugsgefecht bei strömendem Regen aus dem Red-Ledge-Pass. Dieses Elend hatte nicht annähernd so lange gedauert, und sie hatten ihre Wut mit Waffeneinsatz abreagieren können. Diesmal gab es nichts als eine Knochen brechende Strapaze, von vor Sonnenaufgang bis nach Sonnenuntergang, in erstickendem Staub und gnadenloser Hitze. Die Kolonne hielt ab und zu an, damit sie sich ausruhen und etwas essen konnten, aber immer nur gerade lange genug, um sicherzustellen, dass die Soldaten nicht vor Erschöpfung umfielen. Doch das Schlimmste war das Wissen, dass die Stahlwölfe auf der anderen Seite der Welt schon in Tara gelandet waren.
Als die Einsatzgruppe in Fort Barrett eintraf, fanden sie eine hektische Aktivität vor. Die Kasernengebäude waren voller Soldaten aus Einheiten, die sonst auf kleineren Stützpunkten in ganz Kearny stationiert waren. Manche Einheiten waren in Zeltreihen auf den Sportplätzen und dem Paradeplatz untergebracht. Und alle Transportflugzeuge des Regiments in Kearny standen auf dem Landefeld aufgereiht - zumindest schien es so: Flügelspitze an Flügelspitze, mit kaum genug Platz für Start und Landung. Zwischen den Maschinen waren zusätzliche Passagierflugzeuge in den Farben dreier verschiedener ziviler Fluglinien zu sehen.
Lexa Mclntosh pfiff durch die Zähne, als sie die Zivilmaschinen sah. »Verdammt noch mal, wie sind sie an die gekommen?«
»Der General hat sie wahrscheinlich requiriert«, antwortete Will.
»Kann er das so einfach?«
Jock bemerkte: »Sieht nicht aus, als würde ihn jemand daran hindern.«
»Ich bin überrascht, dass er noch keine Truppen nach Tara in Marsch gesetzt hat«, stellte sie fest. »Ich weiß zwar nicht, was die Wölfe planen, aber es kann nichts Gutes sein.«
»Das da drüben muss ein Blutbad sein«, stimmte Jock mit tiefer Stimme zu.
Will schüttelte den Kopf. »Schaut euch mal um. Er plant, die Stahlwölfe mit allem anzugreifen, was Kearny besitzt.« Er sprach zögernd, weil er sich erst noch daran gewöhnen musste, in diesen Kategorien zu denken. »Er muss bis jetzt gebraucht haben, all diese Flugzeuge zusammenzuziehen, und alle Truppen, den Nachschub und die Waffen bereitzubekommen.«
»Hätte er nicht ein paar vorausschicken können?«, fragte sich Lexa.
»Wahrscheinlich wünscht er sich, er könnte sich selbst vorschicken. Erinnert euch an den Pass. Er war immer da, wo es am heftigsten zur Sache ging. Aber diesmal kann er ohne genug Schlagkraft gar nichts ausrichten.«
Februar 3134, Winter
Ezekiel Crow verließ die Neue Kaserne im Laufschritt und rannte zu den Hangars, in denen die Mechs untergebracht waren. Die Worte Tara Campbells hallten in seinem Geist nach: Sie müssen den Befehl über Farrells Söldner übernehmen. Falls es uns gelingt, die Wölfe von zwei Seiten anzugreifen, bevor sie zu tief in die Stadt eindringen, haben wir eine gute Chance, sie zurück zu ihren Schiffen zu drängen.
Die Countess hatte Recht. Ein Einsatz der Söldner war die Lösung für ihr gegenwärtiges Problem. Die Highlander-Einheiten in und um Tara reichten allein nicht aus, den Angriff zurückzuschlagen. Diesmal würde Anastasia Kerensky mit mehr Wölfen angreifen als zuvor: mit all denen, die nicht nach Tigress zurückgekehrt waren, verstärkt durch diejenigen, die Tigress in den letzten Monaten mit unbekanntem Ziel verlassen hatten. Die Highlanders brauchten die Söldner als Verstärkung, falls Tara kein zweites Chang-An werden sollte.
Er konnte es noch verhindern, dachte Crow, er konnte noch... aber es hallten noch andere Worte durch seinen Geist, keine gesprochenen Worte, sondern welche, die in schwarzen Lettern auf einem Blatt gutem weißem Papier gedruckt waren:
Anastasia Kerensky will Northwind. Sorgen Sie dafür, dass sie bekommt, was sie will.
Der Brief hatte keine Drohung enthalten. Wer auch immer ihn geschrieben hatte, hatte keine Notwendigkeit dazu gesehen. Die Information allein war genug, die gewünschte Botschaft zu übermitteln:
Hindern Sie Anastasia Kerensky daran, Northwind zu erobern, und all das wird öffentlich.
Als er die Waffenkammer erreichte, war sie trotz der späten Stunde taghell erleuchtet. Fenster und Oberlichter leuchteten gelb in die Nacht. Das ganze Gebäude brummte vor Aktivität, aufgescheucht durch die Nachricht vom Raumhafen. Crow lief zum Mechhangar. Bis vor wenigen Monaten hatte die Halle praktisch leer gestanden. Jetzt stand sie voller
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