Schatten der Zitadelle (German Edition)
Margha. Aber wer seid Ihr, der Ihr hier so einsam im Wald lebt?"
Der Mann lehnte sich nach vorne, faltete die Hände und zog die Augenbrauen hoch.
"Die Frage ist gar nicht eindeutig zu beantworten, Tochter der Nathane. Alles ist eine Frage der Perspektive. Manche nennen mich Geschichtenerzähler, einige Vater, aber die meisten kennen mich unter dem Namen Ybbor."
Als er die Überraschung im Gesicht der Mor'grosh erkannte, fügte er hinzu: "Du fragst dich, woher ich weiß, wer deine Mutter ist, nicht wahr? Ich weiß mehr, als du dir vorstellen kannst und vielleicht mehr, als über die Vorgänge dieser Welt überhaupt zu wissen möglich ist." Er schaute sie direkt an, scheinbar aus irgendeinem Grund stolz und lächelte in sich hinein.
Verlegen wandte Margha den Blick ab. Er fiel auf ein äußerst lebensecht wirkendes Portrait in einem dunklen, gläsernen Rahmen. Sie stand auf, um das Bild näher zu betrachten. Eine rothaarige, schlanke Frau stand Arm in Arm mit einem aschblonden Mädchen vor einem ziegelroten Bauernhof. Die beiden schienen sehr glücklich.
"Wer ist das?", fragte sie neugierig und zeigte ihm das Objekt.
"Das ist meine Frau mit Cirilla, meiner Tochter.“
"Ihr habt Familie? Wohnen sie mit Euch hier?"
"Nein, habe ich nicht", sagte Ybbor trocken.
"Sind sie…?"
"Nein, sie leben. Oder werden es. Manchmal verstricken sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft miteinander und es ist schwer, sie wieder zu entwirren. Jedenfalls habe ich keine Familie, nicht hier und nicht jetzt."
Sie verstand diese Antwort nicht, aber aus einer plötzlichen Intuition heraus fragte sie den Einsiedler: "Sagt mir bitte: Wisst Ihr irgendetwas über die Wächter?"
Ybbor schwieg eine Weile. "Ich kann dir dazu nicht viel sagen. Manche nennen sie Alte Götter, einige Lo Darrgh, andere Wächter. Nichts existiert ohne Grund. Es ist nicht immer alles so, wie es scheint. Hinter manchen Dingen steckt ein größerer Plan."
Sofort schien er zu bereuen, was er soeben gesagt hatte und wirkte verärgert, blieb aber freundlich.
"Ich glaube, es ist besser, wenn du jetzt gehst", sagte er ruhig, aber bestimmt, und schob sie sanft zur Tür hinaus.
Ehe sie sich versah, fand sie sich im Freien wieder und ihr wurde schwindlig...
***
Margha erwachte wie aus einem tiefen Schlaf. Aber sie konnte nicht geschlafen haben, denn sie stand aufrecht inmitten der Bäume.
Die untergehende Sonne tauchte den Wald in ein sanftes Abendrot und die Vögel sangen ihr ein Gute-Nacht-Lied.
Ist es schon wieder Abend? Ich war doch eben noch bei Ybbor und es war stockdunkel!
Sie zuckte zusammen, als Valox wie ein weißer Blitz an ihr vorbeischoss. Er trug ein junges Reh im Maul, gerade richtig als kleines Abendessen für ihn.
Eilig folgte sie seiner Spur, bis sie durch die Baumreihen hindurch Broxx erkannte, der auf einem kleinen Felsen saß und Holzpfähle anspitzte.
"Ich bin wieder da!", rief sie erleichtert grinsend und rannte auf ihn zu.
Der Mor'grosh aber blickte nur verständnislos von seiner Arbeit auf und fragte: "Und wo ist das Feuerholz?"
Wut stieg in Margha auf, aber sie beherrschte sich mit viel Mühe. "Ich bin so lange weg, ohne etwas zu sagen und das einzige, was dich interessiert, ist Feuerholz?!"
"Ein oder zwei Stunden findest du lange? Außerdem hast du doch gesagt, dass du Feuerholz suchen gehst. Also wo ist es?" Er zog eine Augenbrauen hoch.
Verwirrt bemerkte Margha, dass im Lager alles so aussah, wie sie es verlassen hatte: keine erkennbaren Schlafplätze, keine Feuerstelle und keine Holzpalisaden.
Es scheint immer noch derselbe Abend zu sein… habe ich das alles nur geträumt?
Die Mor'grosh war vollkommnen ratlos, aber es schien die einzige Erklärung zu sein, obwohl ihr die Begegnung mit Ybbor immer noch viel zu real für einen Traum vorkam.
Also sagte sie entschuldigend: "Tut mir leid, das habe ich total vergessen" und zuckte mit den Achseln.
"Na was hast du denn dann gemacht?"
"Ach, ich habe nur ein wenig die Schönheit des Waldes bewundert… Wusstest du, dass es hier fluoriszierende Pflanzen gibt?"
"Ja, das hat mir Innah einmal erzählt."
Er legte den Pfahl weg, den er soeben vollendet hatte und stand auf. "Dann lass uns wenigstens jetzt noch Feuerholz sammeln, bevor es dunkel wird."
Sie nickte und wartete, dass er vorausging, dann murmelte sie verstehend in sich hinein:
"Du wusstest tatsächlich mehr, als überhaupt möglich ist…"
***
Zun Nadhâr war nur wenige Stunden von ihrem Lagerplatz des
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