Schatten des Wahns: Stachelmanns dritter Fall (German Edition)
später keinen Grund gehabt, Ossi zu töten, nachdem er in Heidelberg offenbar am falschen Ort ein falsches Wort gesagt hat. Und bedenke, Tramal mit einem Insulinspray, Letzteres ein neues Medikament, das weist eindeutig auf einen Arzt hin. Und welcher Arzt hat ein Motiv? Womit wir also wieder am Anfang wären.«
»Ich gebe zu, das ist ein schlüssiges Modell. Aber auf dem Lehrgang würden sie anfangen nach Beweisen zu fragen. Mit klugen Ideen kommt man nicht weit vor Gericht. «
»Gewiss. Aber wenn die beiden kein Alibi haben für die Tatzeit, dann sollten deine Kollegen sie mal verhören.«
»Puuh«, sagte sie. »Ich fürchte, rund zehn Millionen Deutsche haben für diese Zeit kein Alibi.«
»Dann verhört ihr eben alle.«
Sie gluckste. »Eine bessere Idee ward nie geboren.«
»Warum bist du eigentlich Polizistin geworden, wenn du nicht mal auf eine so einfache Idee von allein kommst?«
»Ich freue mich, es geht dir besser. Sonst würdest du nicht schon wieder frech werden. Meine Seele dürstet nach Gerechtigkeit. Außerdem stehe ich auf Uniformen und Polizeisirenen.«
Er lachte.
»Also gut, ich hatte nach dem Abi Lust, etwas zu tun, das für Mädchen nicht alltäglich ist. Friseurin ist nicht mein Fall. Habe mir gesagt, schnupper mal rein, kannst ja wieder aufhören. Und dann bin ich hängen geblieben.«
»Klingt ziemlich unheroisch.«
»Ist unheroisch, bedaure, Sie zu enttäuschen. Die Mehrheit der Menschen empfindet die Berufswahl übrigens nicht als sonderlich heldenhaft. Du bist natürlich eine Ausnahme. Der Kampf um die Wahrheit im lebensverkürzenden Staub der Archivkeller. Damit die Menschheit wenigstens im Nachhinein erfährt, warum es schief gegangen ist.«
»Genau«, sagte er. »Endlich jemand, der mich versteht.«
Plötzlich stand ihm seine Habilitationsschrift vor Augen. Aber sie erschreckte ihn nicht. Du wirst es schon schaffen. »Ich muss meine Mutter besuchen«, sagte er unvermittelt. Es drehte sich alles im Kopf.
»Dann tu es«, sagte sie. »Am besten gleich.« Sie brachte ihn zur Wohnungstür. »Komm wieder«, sagte sie und küsste ihn auf den Mund.
Draußen wurde er traurig. Er lief zur U-Bahn-Station und fuhr zur Kellinghusenstraße. Von dort brauchte er keine Viertelstunde zu Fuß bis zur Pforte der Klinik. Die Gelenke fühlten sich an, als wären sie aus Gummi, aber der Schmerz hatte nachgelassen. Seine Niedergeschlagenheit wuchs, als er durch die Gänge mit den spiegelnden Böden und den Neonröhren an der weißen Decke ging. Er begegnete Patienten im Bademantel, Männern und Frauen in weißen Kitteln. Es roch nach einem Reinigungsmittel. Ihm wurde übel, ein beißender Geschmack stieg die Speiseröhre hoch. Als er vor der Tür des Zimmers stand, in dem seine Mutter lag, sah er seine Hand zittern, als er zur Klinke griff.
Die Mutter schlief. Ihr Gesicht war eingefallen, sodass er einen Augenblick fürchtete, sie sei gestorben. Aber dann sah er sie atmen durch ihren leicht geöffneten Mund. Er hielt sein Ohr in die Nähe ihres Gesichts, der Atem war ruhig und kräftig.
Sie schlug die Augen auf. Er sah sie lächeln. »Schön, dass du da bist.« Ihre Stimme war brüchig. Sie nahm seine Hand, ihre war kalt, die Haut fühlte sich an wie Plastik. »Wie geht es Anne und Felix?«
Als würde ihm ins Herz geschnitten. »Gut«, flüsterte er, als ob sie nicht allein wären. »Gut.«
Sie schaute ihm skeptisch in die Augen, seine Stimme schien ihr das Gegenteil zu sagen. Aber sie fragte nicht weiter.
Nach einer Weile des Schweigens sagte sie, die Ärzte meinten, sie komme bald nach Hause. Ob etwas geblieben sei vom Tumor, könnten sie erst später feststellen, sie müsse in kurzen Abständen zu Nachuntersuchungen ins Krankenhaus. Wichtig sei ihr aber, dass sie nach Hause komme. »Weißt du, als ich unser Haus verließ, dachte ich, ich sähe es nie wieder. Das ist ein merkwürdiges Gefühl. So endgültig. Aber sterben müssen wir alle. Nur nicht zu früh, auch nicht zu spät. Wann ist die richtige Zeit zu sterben?« Sie schaute an ihm vorbei auf ein Landschaftsbild an der Wand. Er hätte gern gewusst, was sie in der Dutzendkopie irgendeines Künstlers sehen wollte. Aber er fragte nicht. Ja, wann ist es Zeit zu sterben? War es für Ossi so weit gewesen? Für Frau Brettschneider, für Adi? Wann ist meine Zeit?
Draußen auf der Straße war er wie benommen. Es nieselte, er fand die warmen feinen Tropfen im Gesicht angenehm. Wie sollte er verstehen, was seine Mutter gesagt hatte? Sie musste
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