Schatten des Wahns: Stachelmanns dritter Fall (German Edition)
jederzeit einen Rückfall erwarten, eine Metastase, die sich vielleicht gerade jetzt im Körper auszuweiten begann.
Er fuhr bis zum U-Bahnhof Hallerstraße und lief zum Philosophenturm. In der Cafeteria aß er ein Käsebrot. Ihm war, als stünde eine unsichtbare Mauer zwischen ihm und den anderen. Dann nahm er den Aufzug zum Historischen Seminar. In seinem Dienstzimmer vertrödelte er einige Minuten und schaute hinunter auf das Treiben im Von-Melle-Park. Er hätte lange so stehen können, doch dann schaltete er den PC ein und machte sich an seine Arbeit. Erst am Abend würde er Wolf anrufen. Er war aufgeregt, vielleicht wusste Wolf schon etwas, zum Beispiel, wie Kipper und Detmold auf die Polizeibefragung reagiert hatten. Stachelmann malte sich aus, wie die beiden panisch flohen und sich dadurch nur verrieten. Aber er zwang sich zurück an seine Arbeit. Heute hatte er gar kein Verhältnis zu dem, was er geschrieben hatte. Es war ihm fast egal, mechanisch beseitigte er Fehler, schlug manches nach, fing immer wieder seine Gedanken ein, die nach Heidelberg schweiften oder zu Carmen, zu der er am Abend zurückkehren würde.
Um fünf Uhr versuchte er zum ersten Mal Wolf zu erreichen. Aber der nahm nicht ab. Stachelmann stellte sich vor, wie der Expolizist Detmold an den Fersen klebte, Fotos machte, Auffälliges notierte oder auf ein Tonband sprach. Bald würde Stachelmann mehr wissen. Wieder ein, zwei Seiten, und dann nahm ihn doch etwas im Text gefangen, die Schilderung eines KZ-Häftlings über die Arbeit im Steinbruch. Wie sie die Toten mitschleppen mussten, wenn das Arbeitskommando zurückmarschierte ins Lager. Steinbruch, das bedeutete für viele die Todesstrafe. Da wurden die Häftlinge geschunden, aus Rache, zur Strafe, aus Lust an fremden Qualen. So oft hatte er diese Passagen gelesen, jedes Mal berührten sie ihn aufs Neue. Es war seltsam, nach dem Krieg das große Schweigen, aber dann, ab den Siebzigerjahren bis zum heutigen Tag, unzählige Dokumentationen, die doch alle die gleichen Bilder zeigten, wenn auch in unterschiedlicher Abfolge. Die stete Wiederholung und die inszenierte Dramatisierung, wie sie inzwischen üblich war, vertiefte die Kenntnisse nicht, auch nicht die Abscheu. Eher spielten da manche mit der Macht der Bilder und der Faszination des Grauens. Nicht zuletzt, es war ein gutes Geschäft. Je weiter die Nazizeit zurücklag, desto unbefangener griffen die Deutschen nach Büchern oder sahen Dokumentationen, die doch nur wiederholten, was längst bekannt war. Nichts Neues, immer wieder das Gleiche, aber oft genug vorgetragen mit nichts Geringerem als dem Anspruch, nun endlich die Wahrheit zu berichten.
Es war sein Beruf, hinzuschauen, immer wieder hinzuschauen. Und sich vorzustellen, wie es gewesen war. Vor allem, warum es geschehen war und wie die Entscheidungen getroffen wurden, aus welchem Grund und unter welchen Bedingungen. Da ging es nicht um die Dämonen, die das Fernsehen so wirkungsvoll vorführte, sondern um schwierige, vielfältige, oft kaum entschlüsselbare Prozesse, die zu Ergebnissen führen konnten, die am Anfang den Beteiligten nicht einmal im Traum erschienen waren. Aber das ließ sich nicht bebildern, weshalb es im Fernsehen nicht vorkam.
Zurück an den Text. Ein paar Zeilen, dann drückte er die Wahlwiederholungstaste, doch Wolf war immer noch nicht da. Wieder ein paar Zeilen, wieder die Taste. Stachelmann erschrak fast, als abgehoben wurde.
»Es ist einiges los hier«, sagte Wolf. »Ich weiß nur nicht, was es bedeutet.«
»Aha«, sagte Stachelmann. Warum spannte der Mann ihn auf die Folter?
»Ich bin Detmold überallhin gefolgt, nur nicht aufs Klo.« Er lachte über seinen Witz, dann stockte er, weil Stachelmann nicht mitlachte. Er räusperte sich, dann fuhr er fort. »Also, ich weiß jetzt, warum der Doktor Nachtschichten macht.« Wolf wollte es spannend machen.
»Und?«, fragte Stachelmann.
»Na, er hat was mit einer Arzthelferin.«
»So eine Schwarzhaarige, kurz geschnitten, stark geschminkte Augen.«
»Genau.«
»Und woher wissen Sie das?«
»Ach du lieber Himmel, wenn zwei sich so herzlich küssen und gar nicht mehr aufhören wollen. Und seine Finger unter ihrer Bluse wühlen und sie sichtlich nichts dagegen hat.«
»Wo haben Sie die beiden beobachtet?«
»Sie verließen gesittet zusammen die Praxis, dann gingen sie die Kleine Mantelgasse runter, er schaute sich um, fast hätte er mich gesehen, zog sie in einen Hauseingang, und da habe ich einfach auf
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