Schatten des Wahns: Stachelmanns dritter Fall (German Edition)
geblättert und den Rappel gekriegt. Wer weiß es?«
»Als er hier war, erschien er mir gut gelaunt und ausgeglichen. Hat seine Sprüche gemacht wie früher. Du kennst das ja.«
Und wie er es kannte.
Sie zwirbelte eine Haarsträhne zwischen Daumen und Zeigefinger. Er erinnerte sich, das hatte sie früher auch getan.
Der Kellner stellte eine Weinkaraffe auf den Tisch und zwei Gläser, dann schenkte er ein. Der Mann war dezent.
»Es muss also zwischen seinem Besuch hier und dem Zeitpunkt des Selbstmords etwas geschehen sein, das ihn in eine Krise trieb«, setzte sie ihren Gedanken fort. Dann streckte sie ihren Rücken und sagte: »Ich habe ihn nie gemocht. Und als er neulich hier war, habe ich gegen die Antipathie angekämpft. Man hat doch lieber mit Leuten zu tun, die man mag. Aber es ist mir nicht gelungen. Als du sagtest, er sei tot, hat mich das ein bisschen getroffen, schließlich gehört er zu meiner Erinnerung. Dann flog Trauer mich an und war bald wieder abgeschwirrt.«
Stimmt, sie hatte früher schon einen Hang zur blumigen Sprache gehabt. Manchmal jedenfalls. Wenn etwas sie stark beschäftigte. Dann trennte sie ihre Sätze durch Pausen, in denen sie nachdachte. Sie war bedächtig. Vielleicht fand sie jeden ihrer Sätze so wichtig, dass sie ihn eine Weile festhielt und prüfte. Was man gesagt hat, hat man gesagt. Es ist draußen, nicht mehr zurückzuholen. Stachelmann erinnerte sich an einen Streit. Sie hatte ihn fast verrückt gemacht mit ihrer zögerlichen Sprechweise.
»Und warum hast du ihn nicht gemocht? Du hast es mir nie gesagt.«
»Doch, habe ich. Aber du hast ja nicht zugehört.« Sie ließ die Haarsträhne los und griff nach einer anderen. »Er war, Entschuldigung, ein Angeber.« Sie strich sich übers Kinn, schien nach einem Wort zu suchen. »Und du hast an seinen Lippen gehangen.« Sie trank einen Schluck und behielt das Glas eine Weile in der Hand, schaute es an und setzte es ab. »Das hat mich gekränkt. Was er sagte, galt.«
War es so gewesen?
»Er hatte einen schlechten Einfluss auf dich. Hat dich immer weiter hineingezogen in diesen Politkram. Bis du auch geredet hast von der Revolution. Nächtelang warst du weg, Flugblätter schreiben, verteilen. Sogar vor Werkstoren. Die Arbeiterklasse belehren, um Gottes willen.« Sie lachte leise, aber er hörte Bitterkeit heraus.
Nun erschienen Stücke aus dem Nebel. Wie Ossi in Stachelmanns WG erschienen war. »Wir müssen was tun. Die Schweine haben sie verurteilt! Morgen Abend gibt es eine Demo, alle sind dafür. Wir müssen jetzt ein Flugblatt schreiben, die Genossen haben uns den Auftrag gegeben.« Und dann war Stachelmann gegangen und fast drei Tage weggeblieben, ohne sich von Regine zu verabschieden. Es blieb nicht das einzige Mal, Ossi kam immer wieder, immer aufgeregt, und immer verschwand er danach mit Stachelmann, egal, was der mit Regine verabredet hatte. »Das musst du verstehen, die Revolution geht vor«, hatte Ossi einmal gesagt, als Regine schnippisch »frohe Verrichtung« gewünscht hatte. Ossi hatte es ernst gemeint.
Welche Anmaßung, dachte Stachelmann, während er Regine nachschaute, die zur Toilette ging. Welche Selbstüberhebung hatte ihn geritten? Ihn und die paar Leute, die übrig geblieben waren von der Studentenrevolte. Die Parteien und Gruppen gründeten, die so lächerlich und winzig waren wie ihr Anspruch grenzenlos. Sie hatten sich wichtig gefühlt, Verbündete der revolutionären Bewegung, die dem Imperialismus Schläge versetzte überall auf der Welt. Er erinnerte sich mancher seiner Diskussionsreden in Seminaren und staunte, dass die anderen, auch Lehrkräfte, ihn ernst genommen hatten.
Er war versunken in seiner Scham, als Regine zurückkam. Sie ist immer noch schön, dachte Stachelmann. Auf andere Weise, reifer. Und sie hat immer noch das Grübchen am Kinn.
»Einfälle sind ja nicht heikel bei der Wahl des Ortes, an dem sie einem kommen«, sagte Regine und lächelte. »Da ist dieser Thingstättenmord, Ossi ist tot, du bist zusammengeschlagen worden, vielleicht hängt das zusammen.« Sie spielte mit einem blauen Ring ohne Stein. »Irgendwie.«
»Alles hängt zusammen, die Welt ist die Summe unzähliger Verschwörungen, die alle verkettet sind miteinander.« Stachelmann musste lachen.
Sie fiel ein und legte ihre Hand auf seine, zog sie aber rasch zurück. Sie schaute weg, als wollte sie die Berührung tilgen. Dann sagte sie leise: »Ossi und Selbstmord, ich glaub es nicht.«
Der Kellner kam mit den
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