Schatten des Wahns: Stachelmanns dritter Fall (German Edition)
Bett und wählte ihre Nummer im Krankenhaus. Sie hob gleich ab, als hätte sie auf seinen Anruf gewartet. Mit keinem Wort beklagte sie sich, weil er sich am Sonntag nicht gemeldet hatte. Er traute sich nicht zu fragen, ob es Neues gebe.
»Du willst vielleicht wissen, ob es einen Befund gibt. Nein, eigentlich nicht. Sie munkeln, ich müsste vielleicht ein zweites Mal operiert werden. Zur Sicherheit, nur zur Sicherheit.«
Munkeln, dachte Stachelmann. Wenn es stimmte, war es eine Zumutung. Das durften die Ärzte mit einer Patientin nicht machen. Und sie taten es gewiss auch nicht. In Wahrheit hatten sie einen Befund, vielleicht mit der Einschränkung, eine Kleinigkeit sei noch abzuklären. Aber der Befund reichte aus, eine weitere Operation für nötig zu halten. Fast hätte Stachelmann etwas gesagt, aber er verkniff es sich.
»Du hörst dich seltsam an, bist du krank?«, unterbrach sie seine Gedanken.
»Nein, nichts passiert. Meine Stimme macht wieder Kapriolen, das Rheuma spielt mit den Stimmbändern, du kennst das ja.«
»Ja.« Dieses Ja klang, als gäbe es nichts Schrecklicheres als eine Arthritis, die auf ihrer Wanderung durch den Körper die Stimmbänder entzündete.
»Wann weißt du denn, wie das mit dieser Operation wird?«
»Morgen bestimmt«, sagte sie nach kurzem Zögern. Sie wusste es also längst und glaubte, es ihm in Portionen beibringen zu müssen. So machte sie es aber nur schlimmer. Stachelmanns Phantasie begann sich das Schrecklichste auszumalen. Einen Augenblick wollte er sofort zurückfahren nach Hamburg, weil er fürchtete, seine Mutter nie mehr zu sehen. Aber dann entschied er, am nächsten Tag wieder anzurufen. Vielleicht ergab sich etwas Neues, vielleicht sogar eine gute Nachricht.
Er lief langsam zum Italiener und erwischte sich, wie er immer wieder nach allen Seiten sicherte. Als ihm drei Männer entgegenkamen, brach ihm der Schweiß aus, und es drängte ihn, die Straßenseite zu wechseln, obwohl die Männer noch weit entfernt waren. Die Angst schwand nicht, als die Männer in einer Seitenstraße verschwanden. Er querte die Theodor-Heuss-Brücke und ging dann gleich links hinein in die Ladenburger Straße. Irgendwo hier, ein Stück weiter hinten, hatte er früher einmal gehaust in einer Wohngemeinschaft. Er musste nicht weit laufen, bis er auf die Seitenstraße traf, wo der Italiener lag, Napoli hieß das Lokal zwischen Ladenburger Straße und Uferstraße. Er trat ein und schaute sich um. Sie war noch nicht da. Ein Kellner näherte sich und schaute ihn neugierig an. Stachelmann war es peinlich, der Mann hielt ihn gewiss für einen Schläger. Aber der Kellner lächelte und zeigte auf einen Tisch am Fenster. Stachelmann setzte sich und bekam gleich die Speisekarte.
Da öffnete sich die Tür, eine Frau trat ein. Sie war mittelgroß, irgendwo zwischen vierzig und fünfzig Jahre alt, schwarze krause Haare. Er hatte sie schlanker in Erinnerung, aber dick war sie nicht geworden, und ihre Figur gefiel ihm. Früher hatte er manchmal geglaubt, ihre Augen stünden eng zusammen, aber es war eine Frage der Perspektive. Und dann sah er, sie hatte nicht nur die Haare gefärbt, sie hatte auch das Lachen verloren, das einen herausforderte und zurückwies. Sie lächelte nur, als sie Stachelmann die Hand reichte. Sie tat dies mit fast durchgedrücktem Ellbogen, als wollte sie ihn so hindern, sie in den Arm zu nehmen.
»Wie siehst du denn aus?«, fragte sie.
Sie setzte sich, er berichtete fast beiläufig, was geschehen war.
»Und warum?«
»Keine Ahnung.«
»Aber die müssen doch einen Grund gehabt haben?«
Jetzt erkannte er ihre Stimme wieder, sie konnte hart klingen. »Irgendeinen werden sie gehabt haben.«
Sie blätterte lustlos in der Speisekarte. Als der Kellner erschien, bestellten beide Spaghetti, er Napoli, sie mit Meeresfrüchten, und einen Chianti, weil der Kellner ihn empfahl.
»Du musst mir das mit Ossi erklären«, sagte sie.
Stachelmann war froh, sie hatte nicht nach einem Grund gefragt, warum er sie angerufen hatte nach so langer Zeit. »Selbstmord oder Suizid, wenn du die feinere Variante bevorzugst.«
»Warum?«
Stachelmann starrte auf die Tischplatte, dann schaute er sie an. Immer mehr erinnerte sie ihn an die Regine, die er gekannt hatte. Nur diese Haare verwirrten ihn. Wie kann man sich so schöne Haare färben? Fast hätte er es gefragt.
»Tja, keine Ahnung. Auf dem Tisch vor ihm lag eine Akte mit Flugblättern, Artikeln, Protokollen von damals. Vielleicht hat er drin
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