Schatten des Wahns: Stachelmanns dritter Fall (German Edition)
war unberührt. Sie bestellte eine weitere Karaffe, drehte Spaghetti um ihre Gabel und aß. Ihre Mundwinkel färbten sich rot. »Ich habe damals bei diesem Politkram nur selten mitgemacht, aber es hat doch dazugehört. Ich kann mir das Studium nicht vorstellen ohne diese Daueraufgeregtheit, Ansagen im Seminar, Solidarität mit Soundso und so weiter. Und dann diese Streiks, großartig. Da war wenigstens was los.«
»Lustig konnte man das nur finden, wenn man es nicht ernst genommen hat. Wie Ossi und ich.«
»Ossi war ja ein Hundertfünfzigprozentiger.« Der Kellner brachte die Karaffe, sie schenkte sich ein und nahm gleich einen Schluck. Dann versenkte sie ihre Gabel in die Spaghetti, Stachelmanns Teller war leer. »Und jetzt ist er tot.« Sie schaute irgendwohin und schien sich zu fragen, ob sie vielleicht doch Trauer spürte. »Wie ist das, wenn man tot ist?«
Blöde Frage. Stachelmann schaute sie an. War sie betrunken? Eher nicht, sie vertrug offenbar eine Menge. Damals hatte sie Alkohol nicht angerührt.
»Wie ist das, wenn man tot ist?«, wiederholte sie. Ihre Stimme war klar, kein Lallen.
»Dann ist man weg, einfach weg.«
»Kann ich mir nicht vorstellen.«
»Konnte sich niemand vorstellen, bevor er starb. Und danach ist es zu spät, eine Meinungsänderung kundzutun.«
Sie grinste. »Damals warst du nicht so witzig.«
»Passiert mir auch heute nur selten.« Er musste lächeln, aber dann fand er es unangemessen.
Sie zündete sich eine Zigarette an. »Thingstättenmord, Ossis Akte, sein Tod, und du wirst an deinem ersten Abend in Heidelberg zusammengeschlagen. Da gibt es etwas, das diese Dinge miteinander verbindet«, sagte sie. Sie nippte am Glas, wiegte den Kopf, blinzelte. »Ich spüre das.«
Sie spürt den Alkohol, dachte Stachelmann. »Das sind Ereignisse, die wahrscheinlich nichts miteinander zu tun haben. Jedenfalls lässt sich jedes Ereignis gut erklären, man braucht den Bezug zu den anderen nicht.«
»Oho, der Herr Historiker. Phantasielosigkeit ist Lehrfach bei euch, scheint mir.« Sie sah sich im Restaurant um. Ihr Blick verharrte einige Sekunden bei einem Pärchen, das sich gerade an einen Tisch am anderen Ende gesetzt hatte. »Sieh an, hat er eine Neue. Findest du, dass er sich verbessert hat?«
Stachelmann schaute auch zu dem Tisch. Die Frau war jung und schlank, sie ähnelte Regine in früheren Jahren. Er sah sie im Profil, und ihm fiel die hübsche Nase auf, leicht stupsig. Der Mann war unscheinbar, glatt. »Nein«, log er. »Wann habt ihr euch getrennt?«
Sie winkte ab. »Ewig her.« Dann schaute sie noch einmal hinüber, blies leise zischend Luft aus und trank einen Schluck.
So lang schien es nicht her zu sein, oder die Kränkung saß noch tief.
Stachelmann drängte es, diese Sache loszuwerden. »Du, damals, also ...«
»Ossi sagte, du hast Rheuma. Hatte meine Oma auch. Ist blöd im Winter. Aber meine Oma hat immer Rettich gegessen, das hat geholfen. Wegen irgendwelcher Vitamine. Und irgendein Gelatinezeug hat sie geschluckt, das wandert ins Gelenk. Schmierstoff gewissermaßen.«
Stachelmann unterdrückte seinen Zorn. Warum fühlte sich jeder gedrängt, ihn voll zu quatschen?
Gleich war sie wieder bei ihrem Hauptthema. »Du bist doch gerade im Lande. Vielleicht findest du ja eine Verbindung zwischen den Ereignissen. Ossi sagte nämlich auch, du hättest einen Faible für Geheimnisse und hättest ihm sogar mal ein bisschen geholfen, eher zufällig.«
Stachelmann wusste nicht, ob er sich ärgern sollte. Ein bisschen geholfen, da hatte Ossi ein bisschen geschwindelt, wie es seine Art war. Stachelmann stellte sich vor, wie Ossi angegeben hatte. »Aber der hatte doch nicht eingestehen wollen, dass er Polizist war?«
»Das hat er geschickt gemacht.« Nachdem sie einiges getrunken hatte, verkürzten sich die Pausen zwischen den Sätzen, aber das war immer noch das Einzige, was der Alkohol geändert hatte. Sie trank zweifellos viel und regelmäßig. »Er hat sich so eine Art Aura geschaffen. Geheimnisse, Fälle, aber von Polizei war nicht die Rede. Na ja, James Bond eben. Gestatten, mein Namen ist Winter, Ossi Winter.« Sie fasste ihn an die Schulter. »Du musst wenigstens mal schauen, ob es da was gibt. Du warst sein Freund. Ich glaube, sein einziger. Vor dir hatte er keinen, und als er erzählt hat, wie er dich in Hamburg wiedergefunden hatte, was für eine Riesenrecherche er angestellt hat – alle Register habe ich gezogen, sage ich euch, der hätte ja auch in Timbuktu sein
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