Schatten des Wahns: Stachelmanns dritter Fall (German Edition)
können, aber er treibt sich genau vor meiner Nase rum. Das sind oft die schwierigsten Fälle. Finde jemanden, der sich vor deiner Nase rumtreibt, sich aber nicht sehen lässt.« Sie traf seinen Tonfall gut. Leise, damit alle still waren, bedeutungsschwangere Betonungen, ein wenig genuschelt, weil es lässig klang.
Stachelmann lachte. Der Depp hätte seinen Namen nur in einer Internetsuchmaschine eingeben müssen, und nach ein paar Sekunden hätte er Stachelmann gefunden gehabt. Komisch, dass Regine es nicht durchschaute. Und dass Ossis Billigmasche gezogen hatte.
Sie blickte ihn befremdet an.
»Ich stell mir gerade vor, wie er das erzählt hat und ihr an seinen Lippen hingt.«
»Er konnte spannend erzählen, das hatte Unterhaltungswert. Manche sind ja eher trockene Brötchen.« Sie schaute sich fast demonstrativ im Lokal um. Wieder blieb ihr Blick an dem Pärchen hängen. Der Mann hatte seine Hand auf die Hand der Frau gelegt und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Sie schielte zu Regine, und dann prusteten beide schlecht unterdrückt los.
»Du musst suchen.«
»Ich muss meine Habil schreiben, das ist das Einzige, was ich tun muss.« Er wurde böse. Immer ich. »Warum guckst du nicht? Und überhaupt, was gibt's da nachzuschauen?«
»Vielleicht noch einmal in alten Unterlagen blättern. An der Uni gibt's jetzt sogar ein Archiv mit Materialien aus bewegter Zeit. In der Akademiestraße, die kennst du doch. Du bist der Historiker. Du warst dabei. Du hast bessere Voraussetzungen als jeder Bulle. Zumal ich glaube, die haben sich damals nicht besonders um diesen Fall gekümmert. Da wurde ein Linksradikaler abgeknallt, kein Verlust für die Gesellschaft, ein Spinner weniger.«
»Quatsch«, sagte Stachelmann. »Die Bullen mögen es nicht, wenn Mörder frei herumlaufen. Und solche Mörder schon gar nicht. Außerdem, wie soll man überhaupt einen Hinweis finden in Flugblättern oder Artikeln? Das ist lächerlich. In Ossis Akte hab ich genug gelesen. Wilde Vermutungen. Berücksichtigt man den Ort und das Opfer, dann haben Nazis einen Linken hingerichtet. Vielleicht hatte dieser Lehmann was herausgefunden über Nazis. Es gibt so viele Motive. Die Polizei hat kapituliert, und ich soll mal schnell schauen und was finden? Das glaubst du doch selbst nicht.«
»Er war dein Freund, du bist hier«, sagte sie, als ob sie nicht wahrnähme, wie verärgert er war.
»Ich lade dich ein«, sagte Stachelmann statt einer Antwort. Er winkte nach dem Kellner, ohne ihre Reaktion abzuwarten. Ich habe versucht, mit ihr über diese alte Sache zu reden, sie hat mich daran gehindert. Sie hört nicht zu, sie hat zu viel getrunken. Aber wahrscheinlich hört sie auch nicht zu, wenn sie nüchtern ist.
Sie nahm ihn in den Arm vor dem Restaurant und hielt ihn fest. »Wenn du Zeit hast, ruf an. Wir könnten ja nochmal ausgehen miteinander. Also, ich fand's nett.«
Wenn er bedachte, wie distanziert sie anfangs gewesen war, fand er sie nun fast aufdringlich. »Ich sehe, was sich machen lässt. Eigentlich habe ich mir die Habil mitgenommen für den Abend.«
»Und warum bist du dann hier, wenn du dir Arbeit mitgenommen hast?«
Er antwortete nicht. Vielleicht weil ich nicht mit nach Schweden fahren wollte. Weil mich Ossis Tod getroffen hat und ich auf der Suche nach meiner Erinnerung bin. Weil ich nicht täglich ins Krankenhaus will, wo meine Mutter liegt. Weil in Hamburg Bohming nach mir rufen könnte. Weil dieser irre Olaf mir auflauert. Aber das war nicht alles.
* * *
23. Juli 1978
Semesterferien. Obwohl die eigentlich ohne Bedeutung sind für mich, habe ohnehin nichts studiert. Die Revolution geht vor. Zeit, eine Zwischenbilanz zu ziehen.
Politisch: In diesem Sommersemester kamen wir nicht voran. Streiks bei den Mathematikern verpufften wie schon vorher die bei den Germanisten. Der BuFW hat alle terrorisiert, die Studenten genauso wie Lehrkräfte, die seine Befehle nicht exekutierten. Die liberalen Mittelbauern sitzen in der Klemme, Terror von oben, Druck von den Studenten. Das hat man davon, wenn man nicht weiß, wohin man gehört, wenn Feigheit der erste Programmpunkt ist.
Die Sache mit L. ist erledigt. Kein Grund, leichtsinnig zu werden. Manchmal träume ich davon, dann kriege ich Angst. Die darf ich dem Tagebuch anvertrauen, aber nach außen nicht zeigen. Sonst kriegen die anderen auch Angst. Es wird aber noch zu viel geschwätzt darüber. Inzwischen glaube ich, es war meine Taufe als Revolutionär. Nicht nur reden, auch was tun.
Privat: Ich
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