Schatten eines Gottes (German Edition)
unser nächstes Problem. Wer kann es übersetzen? Und was noch viel wichtiger ist: Wem können wir die Übersetzung anvertrauen? Wen dürfen wir zu unserem Mitwisser machen, wenn das Pergament tatsächlich so gefährlich ist, wie einige befürchten?«
Emanuel machte eine wegwischende Handbewegung. »Das ist einfach. Wir bitten einen jüdischen Rabbi. Er ist der Sprache mächtig. Ihn wird es kaum kümmern, was Jesus oder einer seiner Jünger uns als Vermächtnis hinterlassen haben, weil er nicht unseren Glauben teilt.«
»Das ist wahr.«
»Dann sollten wir uns auf den Weg machen. Die nächste größere Stadt mit einer jüdischen Bevölkerung ist Worms.«
Beim Juden in Worms
In allen größeren Städten am Rhein waren jüdische Gemeinden entstanden, so vor allem in Köln, Mainz, Worms und Speyer. In Köln war Emanuel den Juden oft begegnet, weil die Franziskanerherberge an das Judenviertel angrenzte. Nach allgemeiner Lehre hielt auch er sie für Christusmörder. Sie waren aus Israel vertrieben worden, das war die Strafe für ihre Freveltat. Nun mussten sie fremde Herrscher um Asyl bitten und waren überall nur geduldet.
Dennoch wusste Emanuel, dass ihre Klugheit von den Fürsten geschätzt wurde. Wo sich Juden niederließen, blühte die Wirtschaft, denn sie waren fleißig und belesen. Dadurch kamen sie zu Reichtum. Viele liehen sich Geld von ihnen, und manch einer, der die Juden öffentlich beschimpfte, schlich sich des Nachts durch die Hintertür zu einem jüdischen Arzt. Die dumpfen und beschränkten Menschen dichteten ihnen allerlei Böses an, doch die Gebildeten schätzten sie und suchten oft ihre Gemeinschaft.
In Worms gab es eine uralte jüdische Gemeinde, die schon lange bestanden hatte, bevor es Christen gab. Sie lag an der Stadtmauer zwischen Martins- und Judenpforte und war zum Schutz vor Pogromen mit einer Mauer umgeben. Octavien und Emanuel tauchten ein in das Gewirr der Gassen und Gässchen, die sich um die Synagoge geschart hatten. Octavien fiel auf, dass hier alles viel sauberer war als in den christlichen Vierteln.
Sie fragten nach dem Vorsteher der Synagoge. Mönche und Kreuzritter waren hier nicht gern gesehen. Wortkarg verwies man sie an ein Haus ganz am Ende der Webergasse. Das hohe, schmale Haus gehörte Rabbi Ibrahim Ben Shlomon. Er war eine Ehrfurcht gebietende Erscheinung: groß, stämmig mit funkelnden Augen, einem langen schwarzen Bart, langen Locken und einem bodenlangen gegürteten Kaftan. Die Ankunft eines Zisterziensermönches und eines Tempelritters mochte ihn befremden, sogar bestürzen, aber er ließ sich keine solche Gefühlsregung anmerken. »Es ist mir eine große Freude, so ehrenwerte Gäste in meinem Haus begrüßen zu dürfen«, sagte er, während er die beiden Besucher hereinbat.
Der kleine Wohnraum war vollgestopft mit Möbeln, Büchern und verschiedenartigen Gerätschaften, ähnlich wie sie de Monthelon in seinem Zimmer aufbewahrte. Auf einem Regal stand ein siebenarmiger Kerzenleuchter. Es war nicht die Wohnung eines reichen Mannes, aber alles war reinlich, und es roch angenehm nach Gewürzen.
Octavien überraschte die Höflichkeit des Juden. Er hatte sich über dieses Volk nie besondere Gedanken gemacht, aber sie stets tief unter seinem Stand stehend betrachtet. Sie lebten getrennt von den Christen, kleideten sich anders, befolgten merkwürdige Bräuche und verleugneten Jesus Christus. Die ehrfurchtsvolle Erscheinung des Rabbis jedoch nötigte ihm Respekt ab.
Emanuel hingegen fühlte sich unter den klugen Augen des Rabbis unwohl. Sie könnten mehr sehen und erkennen, als ihm lieb war. »Wir kommen in einer etwas heiklen Angelegenheit«, begann er, doch der Rabbi nötigte sie, sich auf einem großen weichen Sitzmöbel niederzulassen, das er als Diwan bezeichnete. »Sicher kommt Ihr wegen eines wichtigen Anliegens, doch bei uns ist es Brauch, sich zuvor etwas zu entspannen. So schafft man eine günstige Atmosphäre für ein angenehmes Gespräch.«
Eine verschleierte Frau brachte eine aromatische Flüssigkeit in kleinen Schalen, die mit Honig gewürzt war. Der Rabbi nannte sie Tee.
Emanuel und Octavien probierten. »Eine Kräutermischung«, stellte Emanuel fest. »Sehr aromatisch. Um welche Kräuter handelt es sich?«
»Um die Blätter der Teepflanze.«
»Von diesem Kraut habe ich noch nie gehört.«
»Sie wächst vorzugsweise in China. Ein Freund brachte mir einige Sorten von einer Handelsreise mit.«
»China?«, fragte Octavien. »Ist das nicht ein Land
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