Schatten eines Gottes (German Edition)
östlich von Jerusalem?«
Der Rabbi lächelte milde. »Sehr weit östlich davon. Zwischen Jerusalem und China liegen noch viele Länder, vor allem Persien und Indien.«
»Und hinter China?«, fragte Emanuel, der stets sein Wissen erweitern wollte, sich aber stets ärgerte, wenn er es von Ungläubigen erwerben musste. »Welches Land liegt hinter China? Dort muss sich wohl das Ende der Welt befinden.«
Der Rabbi zuckte die Schultern. »Ich kenne niemanden, der da gewesen ist. Einige arabische Gelehrte vertreten die Meinung, die Erde sei rund. Wenn das zutrifft, dann müsste dahinter ein großer Ozean liegen, der wiederum an Europa angrenzt. Wahrscheinlicher ist aber, dass sich noch weitere unbekannte Länder dazwischen befinden.«
Emanuel sann darüber nach. Sollte die Welt wirklich so groß sein? Dann wäre Rom mit dem mächtigen Papst nur eine Randerscheinung. Dann gab es vielleicht andere mächtige Völker, von denen niemand etwas wusste und die ihrerseits nichts von Rom wussten. Er dachte an de Monthelon, was dieser über die Muslime gesagt hatte. Sie seien den Europäern weit überlegen. Persien, Indien, China und andere unbekannte Länder! Lebten dort Menschen, die klüger, stärker, überlegener waren als die Europäer? Wenn es so war, dann mussten sie auch einen stärkeren Glauben besitzen.
»Dieser Tee schmeckt jedenfalls ausgezeichnet«, unterbrach Octavien munter seine Gedanken.
»Eure Zufriedenheit ehrt mich«, erwiderte der Rabbi. »Womit kann ich euch nun helfen?«
»Wir besitzen ein Pergament mit einem aramäischen Text und benötigen einen Dolmetscher. Seid Ihr dieser Sprache mächtig?«
»Es ist die Sprache meiner Vorfahren. Ich kann sie lesen und sprechen. Darf ich das Pergament einmal sehen?«
Emanuel reichte es ihm zögernd. Der Rabbi entrollte es mit der nötigen Vorsicht und dem Respekt, der einem so alten Schriftstück zukam. Als er einen Blick auf die Schrift warf, hoben sich erstaunt seine Augenbrauen. »Das ist ein Palimpsest, nicht wahr? Hier gab es eine Schrift, die abgekratzt wurde.«
Emanuel nickte.
»Darf ich fragen, woher es stammt?«
»Nein, das kann ich Euch nicht verraten.«
»Das ist sehr alt. Sicher wurde es irgendwo in meiner alten Heimat gefunden. Von Kreuzrittern wahrscheinlich, habe ich recht?«
»Ihr sollt es nur übersetzen. Wird es lange dauern?«
»Die Schrift ist verblasst, aber mit einer Gallapfeltinktur kann ich sie wieder gut lesbar machen. Ich werde Euch eine Abschrift auf Latein anfertigen, wenn es recht ist. Gebt mir eine Stunde.«
Emanuel nickte nervös. Irgendetwas an dem Mann verunsicherte ihn. »Wir zahlen in Goldmünzen, das ist es uns wert.«
»Habe ich ein fröhliches Herz, was brauche ich Geld? Aber vielleicht für den Jungen meiner Nachbarin. Er ist sehr krank und braucht Medizin.«
»Tut damit, was Ihr wollt. Ihr müsst nur Schweigen über den Inhalt bewahren.«
»Wir Juden mischen uns nicht ein in Eure Angelegenheiten. Sie kümmern uns nicht. Wir haben unsere eigenen Sorgen.«
»Wegen Eurer großen Schuld«, konnte Emanuel sich nicht enthalten zu erwidern. »Ihr Juden habt Jesus gekreuzigt.«
Octavien räusperte sich unangenehm berührt, doch der Rabbi lächelte nur. »Nicht die Juden, es waren die Römer.«
»Aber die Juden haben es gefordert.«
»Aber nicht der kranke Sohn meiner Nachbarin, das weiß ich genau.«
Emanuel verstummte. Der Rabbi nahm jetzt ein sauberes Stück Pergament und schrieb das Palimpsest in der Übersetzung Wort für Wort säuberlich ab. Emanuel beobachtete ihn dabei genau. Doch was auch immer der Text verraten mochte, die Miene des Rabbis verriet nichts. Erst als er die letzten Zeilen übertrug, zuckten seine Brauen kurz nach oben. Emanuel bemerkte es, aber er vermochte nicht zu deuten, was sie ausdrückten: Überraschung? Bestürzung? Unglauben?
Der Rabbi legte die Feder beiseite und reichte Emanuel die Abschrift mit einem Schulterzucken, als handele es sich um ein Kochrezept. »Das sind einige Aussagen Eures gekreuzigten Zimmermannssohnes. Nebbich!«
Emanuel riss ihm das Pergament fast aus der Hand. Ein schriftliches Bekenntnis von Jesus persönlich? Das wäre ungeheuerlich, denn so etwas wurde noch nie gefunden. Die ältesten Schriften des Neuen Testamentes waren sechzig Jahre nach seinem Tode entstanden. Selbst Paulus hatte Jesus niemals kennengelernt außer in einer Vision vor Damaskus.
Doch nun sollte ein Pergament existieren, das er selbst geschrieben hatte? Emanuels Hände zitterten, er wagte kaum,
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