Schatten eines Gottes (German Edition)
schändet nicht«, knurrte Emanuel, während ihm einfiel, einen kurzen Blick auf den Bergfried zu werfen. Dort war alles ruhig. Auch weiter oben an dem kleinen Fenster rührte sich nichts. Ein beunruhigender Gedanke legte sich wie ein Schatten über sein Gemüt, aber er konnte ihn nicht festhalten, denn Octavien rief ihm zu: »Hier ist etwas!«
Emanuel fiel am Grubenrand auf die Knie und spähte in das Loch, das ein Grab gewesen war, aber nun keine Toten mehr enthielt. Octaviens Hände, so schwarz vom Dreck, dass sie sich kaum vom Erdboden unterschieden, umklammerten eine metallene Kiste. Mit einem Ruck löste er sie aus dem steinigen Erdreich. Rasch fuhr er mit seinem Ärmel über sie hin. Was scherte ihn jetzt der Rock? Es handelte sich um einen silbernen Behälter, der auf seiner Oberseite feine Gravuren aufwies. Ein schönes Stück, das sicher einmal einem vornehmen Manne gehört hatte. Vielleicht dem Grafen Saint-Omer persönlich.
Octavien tastete ungeduldig den Deckel ab und suchte vergeblich nach dem Verschluss. Emanuel dauerte das zu lange. »Brecht sie mit Eurem Messer auf!«, rief er heiser vor Aufregung.
Octavien befolgte den Rat. Es gelang ihm, die Spitze seines Dolches ein wenig unter den Deckelrand zu schieben. Vorsichtig begann er ihn zu lockern. Langsam mit knirschenden Scharnieren hob sich der Deckel und sprang plötzlich ganz auf. Zwei Augenpaare starrten hinein. Das war der heilige Augenblick, auf den die Männer gewartet hatten. Sie erblickten ein in brüchiges Leder eingeschlagenes Päckchen. Hastig wickelte Octavien es aus. Zum Vorschein kam ein zusammengerolltes Stück Pergament, bräunlich, an den Seiten eingerissen und von einer Hanfschnur zusammengehalten.
»Wir haben es!«, keuchte Emanuel. »Das muss es sein!«
»Warten wir es ab«, murmelte Octavien und löste mit fliegenden Fingern die Schnur. »Es ist ein Pergament, aber ist es auch das, welches wir suchen?«
»Was sollte es sonst sein? Die Regeln des heiligen Benedikt?«
Octavien reichte Emanuel mit einer schroffen Geste das Schriftstück. Er ärgerte sich, dass er beim Entziffern immer wieder die Dienste des Mönches in Anspruch nehmen musste. »Hier! Lest. Es ist wieder einmal Latein.«
Emanuel erschrak. Seine Augen waren weit aufgerissen. »Latein, sagt Ihr? Latein? Heilige Jungfrau! Dann kann es nicht das sein, was wir suchen. Die alten Schriften der Juden sind auf Aramäisch geschrieben. Jesus selbst sprach Aramäisch.«
»Ich habe nie von dieser Sprache gehört. Bis heute hatte ich geglaubt, Jesus habe Lateinisch gesprochen wie der Papst und der übrige Klerus. Versteht Ihr denn Aramäisch?«
»Nein.«
Emanuel überflog mit bebenden Lippen den Text. »Aber ich könnte es erkennen.«
»Dann lest um Himmels willen vor, was auf diesem Fetzen steht.«
»Gemach – es ist – oh mein Gott!«
»Nun redet schon, Mönch!«
»Es sind Zeilen aus der Apokalypse. Und sie sind an Papst Innozenz gerichtet.«
»An Papst Innozenz? Wie ist das möglich? Wie konnte ein Text, der vor hundert Jahren geschrieben wurde …«
»Er wurde nicht vor hundert Jahren geschrieben. Und er wurde auch nicht auf dem Tempelberg ausgegraben. Er ist neueren Ursprungs. Nicht sehr alt. Ich möchte wetten, die Tinte ist noch nicht lange trocken.«
»Aber wie kommt das Pergament dann in das Grab zu den Mönchen?«
»Jemand hat es erst kürzlich hineingetan.«
»Ihr habt recht, Mönch!«, Octavien schlug sich an die Stirn. »Beim Gemächte Luzifers! Jetzt wird mir auch klar, weshalb mir das Graben so wenig Mühe gemacht hat. Die Erde war locker, als hätte jemand das Grab geöffnet und wieder zugeschaufelt.«
Emanuel räusperte sich kurz. Er hatte nicht geahnt, über welche Flüche der vornehme Tempelritter verfügte. »Ja. Wir sind einer Spur gefolgt, die absichtlich gelegt wurde, um uns zu narren oder zu verwirren. Wer auch immer das hier getan hat, er muss ein Feind der Kirche sein. Er hasst den Papst. Und er wollte, dass diese Botschaft gefunden und ihm überbracht wird. Das sind die Worte aus der Apokalypse, die er als Botschaft gewählt hat:
Innozenz! Ich weiß, wo du wohnst; es ist dort, wo der Thron des Satans steht. Und doch hältst du an meinem Namen fest.
Ich sehe dich auf einem scharlachroten Tier sitzen. Du bist in Purpur und Scharlach gekleidet und mit Gold, Edelsteinen und Perlen geschmückt. Du hältst einen goldenen Becher in der Hand, der mit abscheulichem Schmutz deiner Hurerei gefüllt ist. Auf deiner Stirn steht ein Name. Der
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