Schatten eines Gottes (German Edition)
einen Blick auf den Text zu werfen. Auch Octavien rückte neugierig näher heran. Emanuel war versucht, den Text mit der Hand zu bedecken. Er wünschte, in diesem heiligen Augenblick wären keine Zeugen anwesend. Die Botschaft Jesu zu lesen, das hätte ihm allein vorbehalten bleiben sollen. Allerdings war er nicht der Erste gewesen. Ein ungläubiger Jude hatte das Wunder für ihn enthüllen müssen. Nun, das war nicht zu ändern und Octaviens Anwesenheit auch nicht. Gemeinsam beugten sie sich über die Übersetzung:
Das ist das Vermächtnis des Rabbis Joshua aus Bethlehem an seine Jünger, das ich auf sein Geheiß niedergeschrieben habe am Tage unseres gemeinsamen Mahles im Hause des Josef von Arimathäa, drei Tage vor seiner Festnahme durch die Römer auf die Bitten des Hohen Rates.
So spricht der Herr:
Ich bin gekommen, um alles neu zu machen. Ihr habt gehört, dass geschrieben steht, Ihr sollt nach den Zehn Geboten leben, die Mose auf dem Berge Sinai empfing. Ich aber sage euch, gehet hin in meinem Namen und lehret die neuen Gebote alle Völker:
Du sollst Gott von ganzem Herzen lieben und vertrauen
Du sollst Gottes Schöpfung beschützen und bewahren
Du sollst kein Wesen gering achten
Du sollst das Alter ehren
Du sollst wahrhaftig sein
Du sollst deinen Feinden vergeben
Du sollst dich nicht zum Herrn über andere machen
Du sollst nicht töten
Du sollst nicht stehlen
Du sollst die Andersgläubigen nicht verachten, denn viele Wege führen zu Gott
So gehört und niedergeschrieben im Jahre dreitausendsiebenhundertvierundneunzig nach Erschaffung der Welt im neunzehnten Regierungsjahr des römischen Kaisers Tiberius, als Herodes Antipas Tetrarch war in Galiläa, von Levi, genannt Matthäus, Sohn des Alphäus und Steuerpächter in Kapernaum.
Ächzend ließ Emanuel das Pergament sinken. Der Sohn Gottes hatte neue Gebote erlassen, welche die Zehn Gebote des Moses außer Kraft setzten. Er hatte es am Tage des letzten Abendmahls getan. Und die Welt wusste es nicht. Die Kirche wusste es nicht, der Heilige Vater wusste es nicht. Nur einige dieser Gebote waren befolgt worden. Alle lebten sie in furchtbarer Sünde. Besonders das zehnte Gebot führte die katholische Kirche ad absurdum. Wenn viele Wege zu Gott führten, dann war der Papst eine nebensächliche Figur. Dann war das Christentum nur eine von vielen Möglichkeiten, und die Juden, die Muslime, die Katharer, bei Gott alle Ungläubigen und Ketzer wären dann ohne Sünde, sie wären reingewaschen! Die Kreuzzüge wären ein furchtbarer Irrtum, ein Verbrechen. Die Sakramente, die Dogmen, alle beschlossen auf heiligen Konzilen, konnte der Papst ebenso ins Feuer werfen. Sie mussten nicht befolgt werden, wenn man einen anderen Zugang zu Gott gefunden hatte. Alles wäre möglich, alles in das Belieben des Einzelnen gestellt. Eine entsetzliche Vorstellung! Eine satanische Vorstellung!
Langsam begriff Emanuel, weshalb dieses Pergament niemals an die Öffentlichkeit geraten durfte. Wer auch immer es mit dem apokalyptischen Text überschrieben hatte, der hatte gewusst, was er tat. Es war das Vermächtnis Jesu, aber wenn die Kirche es befolgen wollte, dann musste sie sich selbst auflösen. Sie konnte nur bestehen, wenn sie das Vermächtnis verleugnete, vernichtete. Emanuel durchfuhr ein eiskalter Schauer. Was würde bleiben? Eine Kirche ohne Gott! Aber war sie das nicht schon immer gewesen?
Er merkte nicht, dass sich seine Finger in die Abschrift gruben, sie zerdrückten, zerknitterten, so als wollten sie das Werk der Vernichtung bereits beginnen. Doch das echte Pergament war immer noch im Besitz des Juden. Es lag vor ihm, bräunlich, fleckig, eingerissen, ein harmloser Fetzen und doch schlimmer als eine Schüssel voller Gift. Warum hatten sie es aus dem Grab herausholen müssen? War es dort nicht viel besser aufgehoben? Dort, wo es von zwei verfluchten Mönchen bewacht wurde, die das Richtige getan hatten. Die es an sich gebracht hatten, um die Kirche zu retten. Denn wenn die Kirche zusammenbrach, dann gab es nichts mehr, woran die Menschen sich halten konnten. Aber sie hatten sich erhängt. Warum? Nun, die Antwort lag auf der Hand: Wer Gottes Wahrheit verdunkeln will, dessen Geist kann niemals Ruhe finden.
»Ist Euch nicht gut? Soll ich Euch einen Becher Wasser holen lassen?«, fragte der Rabbi besorgt.
Emanuel zuckte zusammen. Er hatte die ganze Zeit ins Nichts gestarrt, Stirn und Wangen waren gerötet, der Schweiß lief ihm über das Gesicht, seine Lippen bebten. »Gebt
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