Schatten eines Gottes (German Edition)
Und wer hat uns auf die falsche Fährte geschickt? De Monthelon. Er ist ein Tempelritter.«
»Und wir haben versagt.«
»So sieht es aus.«
Emanuel spielte nervös mit der Pergamentrolle. Als er es merkte, wollte er sie in seinem Habit verstauen, doch plötzlich stutzte er. Ihm war, als habe sich in seinem Kopf ein Fenster geöffnet und seinen Geist mit einem Lichtstrahl erhellt. »Nichts ist alt«, murmelte er. »Weder die Tinte noch die Schnur noch das silberne Kästchen. Die Knochen vielleicht, aber nicht einmal das Grab. Alles ist vor kurzer Zeit gemacht oder arrangiert worden. Nur eins nicht.«
»Was meint Ihr?«
Emanuel hielt die Schriftrolle hoch. »Das hier. Das Pergament selbst ist alt, sehr alt sogar. Ich musste es sehr vorsichtig zusammenrollen. Es ist fleckig, altersbraun und brüchig. Es könnte durchaus aus der Zeit Herodes’ stammen, aus der Zeit unseres Herrn Jesus.«
»Da mögt Ihr recht haben, aber was nützt uns das? Ein altes Pergament mit neuem Text, das ist wie neuer Wein in alten Schläuchen.«
»Keineswegs, Herr Templer. Das ist eine durchaus übliche Vorgehensweise. Neue Texte werden auf alten Pergamenten niedergeschrieben, denn Pergament ist teuer, deshalb wird es immer wieder verwendet. Man kratzt einfach den alten Text ab und beschriftet es neu. Das nennt man ein Palimpsest.«
»Aber der alte Text ist dann verschwunden.«
»Nicht immer. Es wurden schon etliche Texte aus alter Zeit wieder gefunden, weil man sie nicht sorgfältig genug entfernt hatte. Aber auch, um geheime Texte unter banalen Texten zu verstecken, hat man sich dieser Methode bedient. Ich möchte doch einmal sehen, ob das bei diesem Pergament geschehen ist.«
Emanuel holte sein Messer hervor. »Ich bin gespannt, was wir zu sehen kriegen, wenn ich diese Tinte hier abkratze.«
Jetzt war auch Octaviens Neugier geweckt. »Ihr seid ein kluges Kerlchen, Mönch. Hättet nur nicht Mönch werden sollen.«
Emanuel grinste und wollte sich an die Arbeit machen. »Halt!«, rief Octavien. »Sollten wir den Text wirklich entfernen, ohne ihn – ich weiß nicht, irgendwie aufzubewahren?«
»Ihr habt recht. Reicht mir doch bitte Eure lederne Sattelunterlage. Ein spitzes Messer besitze ich selber.«
»Ihr wollt doch nicht meine kostbare Lederdecke …?«
»Wir haben nichts anderes, Herr de Saint-Amand. Ihr werdet wohl noch eine Lederdecke verschmerzen können.«
Grummelnd händigte Octavien dem Mönch die Decke aus, und Emanuel ritzte mit dem Messer den Text der Apokalypse in das Leder. Das war eine langwierige Arbeit, während der Octavien gelangweilt auf und ab schritt. Nachdem der Text recht und schlecht übertragen war, gab er die Decke Octavien zur Aufbewahrung und machte sich daran, die Tinte vom Pergament abzukratzen. Schon nach kurzer Zeit wurden verblichene Zeichen unter Emanuels Messer sichtbar. »Es ist kein Latein!«, jubelte Emanuel. »Es ist kein Latein. Madonna! Es ist – ja, es sind jüdische Schriftzeichen!«
»Jüdische? Nicht Aramäische?«
»Ich kann das Hebräische nicht vom Aramäischen unterscheiden, aber es ist uralt und es ist jüdisch! Templer! Bedenkt nur, was wir hier in den Händen halten! Womöglich ein Vermächtnis, geschrieben von SEINER Hand.«
»So weit würde ich nicht gehen«, brummte Octavien. »Das hebräische Volk wird wohl nicht nur einen Schriftkundigen besessen haben. Auch andere waren des Schreibens mächtig.«
»Natürlich, natürlich. Aber vielleicht stammt es von einem seiner Jünger. Octavien! Es muss wichtig sein. Es muss sich um das fragliche Dokument handeln. Es wäre sonst nicht überschrieben worden.«
»Vielleicht unabsichtlich?«
»Um dann hier versteckt zu werden? Nein!«
»Wenn Ihr es nüchtern betrachtet, wurde es nicht versteckt. Es wurde uns auf Umwegen geradezu präsentiert.«
»Ja, aber zu welchem Zweck? Hat der Schreiber des apokalyptischen Textes von dem Text darunter gewusst? Hat de Monthelon es gewusst? Sollten wir nur als Boten fungieren und Innozenz eine Drohbotschaft zukommen lassen?«
»Ausgerechnet auf einem angeblichen Vermächtnis Jesu? Das scheint mir ein zu großer Zufall.«
»Zugegeben. Aber nur wenige können das Aramäische entziffern. Nicht einmal die Tempelritter konnten es. Wer das Pergament zuletzt in seinem Besitz hatte, muss nicht unbedingt gewusst haben, was für ein Kleinod er in Händen hielt.«
»Auch wir wissen nicht, ob es sich nicht lediglich um die Liste eines jüdischen Steuereintreibers handelt, Emanuel. Und da haben wir
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