Schatten eines Gottes (German Edition)
nicht geglaubt. Diese Prediger und Mönche wussten auch nicht alles. Nur Nicholas, der Erleuchtete, war von Christus persönlich gesegnet worden und wusste, wohin die Reise ging und wie weit es noch war. Aber das blieb sein Geheimnis, denn die Frager und Nörgler würden das heilige Jerusalem nie erreichen.
In Wahrheit war Nicholas schon lange verstummt. Er wusste nicht, wie weit es noch war, noch wo Jerusalem überhaupt lag. Nicht einmal die wenigen heruntergekommenen Kreuzfahrer, die aus dem heiligen Land zurückkehrten, waren hier hilfreich. Sie erzählten immer wieder dieselben Geschichten von heißen Wüstenstürmen, vermummten Beduinen, von blutdürstigen Piraten und fürchterlichen Stürmen auf See, von Hunger, Durst und Seuchen und von habgierigen Kapitänen. Irgendwie hatten sie überlebt, aber den Weg nach Jerusalem, nein, den erinnerten sie nicht mehr. Nur soviel wussten sie noch: Er ging durch die Hölle.
Nicholas wusste, dass sie nach Genua mussten, denn dort würden sie das Meer erreichen, das sich vor ihnen teilen würde wie das Rote Meer vor Moses. Und er wusste auch, dass dazwischen die Alpen lagen. Ein schier unüberwindliches Gebirge, viel höher als die Berge daheim, mit Gipfeln, auf denen ewiger Schnee lag. Gestandene Männer fürchteten den Weg über die Alpen, Kaufleute setzten vor der Überquerung ihr Testament auf. Die Gefahren waren mannigfaltig, und es genügte, sie zu erwähnen, um große Furcht zu empfinden. Bequeme Straßen gab es kaum, nur schmale Saumtierpfade, die an schwindelnden Schluchten vorbeiführten. Nebel, Schneestürme, Lawinen und Steinschläge machten sie unpassierbar, und Wölfe und Bären lauerten hinter den Felsen, um sich die hilflose Beute zu holen.
All das verschwieg Nicholas, denn es hätte die immer wieder erlahmende Begeisterung vollends zum Erlöschen gebracht. Häufig musste er die Fahrt auf seinem Karren unterbrechen, um die Kinder zum Durchhalten aufzufordern. Seine Stimme war rau geworden, seine Augen hatten einen fiebrigen Glanz. Die Sterbenden und Toten, die er am Weg hatte zurücklassen müssen, hatten ihn fast zerbrochen. Nur das gütige Antlitz jenes Mönches, der sich bescheiden Bruder Bernardo genannt hatte, obwohl er doch der Herr Jesus Christus persönlich gewesen war, nur sein mildes Antlitz und das Kreuz am Himmel hielten Nicholas aufrecht und trieben ihn weiter vorwärts. Trotzig und gegen jede Vernunft rief sich Nicholas sein Bild vor Augen, hielt verzweifelt daran fest, dass das himmlische Jerusalem auf sie wartete. Er selbst hätte dennoch längst aufgegeben, aber die Tausende, die ihm folgten, die auf ihn ihre Hoffnung setzten, sie wollte er nicht enttäuschen und sollte es ihn auch das Leben kosten.
Während die Kinder sich erschöpft in der Umgebung der Stadt niederließen, auf einen milden Stadtrat und gutherzige Bürger hofften, war zwischen den Erwachsenen ein Streit über den richtigen Weg entbrannt. Es gab mehrere Wege über das Gebirge, man nannte sie Pässe, aber sie waren alle schwierig und gefährlich. Am kürzesten war der Weg über den Mont Cenis, andere hielten den Weg über den Brenner für besser, weil er weniger hoch und nicht so beschwerlich, jedoch mit einem großen Umweg verbunden war. Eine dritte Partei schließlich wollte es über den St. Gotthard versuchen.
Mönche, Söhne von Kaufleuten und Rittern, Bauernsöhne und Handwerker, sie alle schrien durcheinander, und jeder wollte seine Meinung durchsetzen. Bestürzt stellte Nicholas fest, dass sie nicht Gott im Gebet um den richtigen Weg baten, sondern hitzig aufeinander losgingen. Nicholas mischte sich nicht ein in diesen Streit, er hatte seine Wahl bereits getroffen. Er wollte den kürzesten Weg wählen. Das war er seinen Anhängern schuldig. Gefährlich war es überall. Außerdem sollte es auf dem Pass eine Abtei geben. Nicholas glaubte, dass sie es bis dahin schaffen würden. Dort konnten sie neue Kraft und neuen Trost schöpfen.
Am Abend war es immer noch zu keiner Einigung gekommen. Die Söhne von Rittern und Kaufleuten waren für den Umweg über den Brenner, denn sie waren beritten und mussten die langen Wege nicht so fürchten wie diejenigen, die zu Fuß gingen. Die Mönche stimmten überwiegend für den Mont Cenis. Beinahe wäre es zu einer Schlägerei gekommen. Da meldete sich Nicholas zu Wort. Seine selbst ernannten Adjutanten, fast alle Söhne aus niedrigem Adel, sorgten dafür, dass die Streitenden ihm, der die göttliche Vollmacht besaß, ihre
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