Schatten eines Gottes (German Edition)
viel Traubenmost. Ach ja, und noch einmal frisches Wasser.«
Ein Verrückter,
dachte der Wirt,
aber die haben stets das meiste Geld im Beutel.
Der Märten-Franz hatte nicht alles geschafft, sein entwöhnter Magen nahm nicht mehr auf. Aber er schien für den Augenblick gesättigt und glücklich zu sein. »Der Mann ist gut zu uns«, sagte er. »Ihr müsst euch aber vorher die Hände waschen, sonst dürft ihr nichts essen.«
»Wenn’s weiter nichts ist«, grinste ein hoch aufgeschossener Junge, dessen Gesicht und Hände mit Ausschlag bedeckt waren. »Dafür wasche ich sogar meine Ohren.«
Sinan wandte Augen rollend den Blick ab.
Im weiteren Verlauf beobachtete er die Kinder, wie sie das Essen in sich hinein schlangen und dabei immer unbeschwerter wurden und fröhlich miteinander schnatterten. Das war es nun, das Gute, das ihm neben dem Bösen zu tun aufgetragen war. So sah es aus. Was sollte er dem Meister erzählen? Wie wohl er sich zwischen einer Schar schmatzender und lärmender Kinder gefühlt hatte? Immerhin. Dieser Franz hatte hübsche blaue Augen.
Plötzlich stand ein weiterer Knabe am Tisch. Sinan hatte ihn gar nicht kommen hören, er war leise und bescheiden herangetreten, doch schien allein seine Anwesenheit die Luft in Schwingungen zu versetzen. Er stand da in seinem einfachen, aber sauberen Rock, den geflickten Sandalen und einem Tuch um das lange blonde Haar gewickelt, und die Welt war plötzlich reicher geworden.
Sinan wusste, das musste Nicholas sein. Die feinen Züge, die großen braunen Augen und das seidige blonde Haar. Wahrhaftig, er war ein Engel, ein Geschöpf des Lichtes.
Die Kinder vergaßen das Essen und starrten den Gottgesandten an. Nicholas schaute lächelnd auf die schmausende Schar und dann auf Sinan. »Darf ich mich dazu setzen?« Er wartete die Antwort nicht ab. Mit den Blicken deutete er auf Sinans Laute. »Glücklich das Land, wo die Spielleute so reich wie Fürsten sind.«
Sinan machte ihm auf der Bank Platz. Ihm war heiß und schwindelig wie nach mehreren Krügen Wein. »Du musst Nicholas sein.«
»Ja. Ich wollte eine kurze Zeit allein sein, mich ein wenig ans Wasser setzen, da sah ich die Kinder bei Euch sitzen. Ihr seid ein guter Mensch. Danke für das alles hier. Sie haben Schweres durchgemacht.«
Sinan betrachtete ihn von der Seite. Der Größe nach mochte der Knabe zwölf Jahre alt sein, aber seine Gesichtszüge besaßen die frühe Reife eines Erwachsenen. Obwohl er eine schier unmenschliche Last zu schultern hatte, war seine Miene heiter. Nur ganz tief in seinen Augen wohnte ein Schmerz. Sinan verwirrte es, dass er das überhaupt bemerkte.
»Möchtest du auch etwas essen?«
Er glaubte, Nicholas werde ablehnen. Warum, wusste er nicht. Vielleicht, weil ein Engel nichts zu sich nahm, er lebte von Luft und der Liebe Gottes. Aber Nicholas erwiderte: »Gern, wenn Ihr mich einladet. Ich muss gestehen, ich könnte das Essen nicht bezahlen.«
Sinan wollte es nicht sagen, es rutschte ihm einfach heraus: »Und die vielen anderen?«
Nicholas warf ihm einen müden Blick zu. »Ich würde meine Speise mit ihnen teilen, aber es sind mehr als tausend. Ich muss bei Kräften bleiben. Ich muss sie führen, weil sie mir vertrauen.«
»Die Heilige Schrift sagt, als nurmehr fünf Brote und zwei Fische da waren, betete Jesus zu Gott dem Herrn, und siehe da, er konnte mit ihnen fünftausend speisen.«
»Ich bin nicht Jesus. Ich bin nur Nicholas Hardevust.«
Nicholas sagte das ohne Bitterkeit und ohne falsche Bescheidenheit. Er ruhte in sich selbst und verfügte offensichtlich über eine ungeheure innere Stärke.
»Aber Gott würde deine Bitten erhören.«
»Ich bete täglich zu ihm. Aber er bevorzugt mich nicht. Gott erhört die Stimme des Geringsten und des Höchsten, wenn es sein Wille ist.«
Sinan bestellte noch einmal Schweinebraten. Ihm fiel auf, dass der Wirt vor dem neuen Knaben die Augen niederschlug.
»Die Hardevusts sind eine angesehene Kölner Kaufmannsfamilie, nicht wahr?«
»Ja.«
»Weshalb führst du dann diese zerlumpten, verhungerten Kinder ins Verderben? Weshalb hast du ihnen nicht mit eurem Reichtum geholfen?«
»Weil sie ein Ziel brauchen und Hoffnung, keine Almosen. Alle folgen mir freiwillig, niemand wurde gezwungen, jeder kann jederzeit umkehren. Außerdem setzen wir ein Zeichen. Die Menschen schreien nach Gerechtigkeit und verurteilen das üppige Leben des höheren Klerus, den Reichtum der Klöster und deren Prachtentfaltung. Es muss etwas geben, das die
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