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Schatten eines Gottes (German Edition)

Schatten eines Gottes (German Edition)

Titel: Schatten eines Gottes (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jutta Ahrens
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Sehnsucht der Menschen nach dem einfachen urchristlichen Leben bedient.«
    Was für weise Antworten und doch! Was für törichte Antworten.
Zum ersten Mal in seinem Leben fühlte Sinan sich bewegt, Trauer und Hoffnungslosigkeit legten sich wie Lederschnüre um seine Kehle. Doch Nicholas schaute mit leuchtenden Augen auf das, was der Wirt soeben herbeibrachte. In Vorfreude auf das köstliche Essen röteten sich seine Wangen, er sprach ein kurzes Tischgebet, bekreuzigte sich und begann zu essen. Sinan war erleichtert, dass Nicholas in diesem Augenblick auch nur ein hungriger Zwölfjähriger war.
    »Du bist doch ein Spielmann. Willst du uns nach diesem guten Essen nicht etwas auf deiner Laute vorspielen? Ein Tanzlied vielleicht? Ich glaube, es ist lange her, dass sie getanzt haben.«
    Was war es nur, das jedes Wort aus dem Munde des Knaben in einen süßen Befehl verwandelte und jeglicher Zynismus ihm wie Sand zwischen den Fingern zerrann? Schon erhob sich Sinan, um seine Laute zu holen. Dann setzte er sich auf einen der Tische und begann lustige Weisen zu spielen, die er so oft auf Jahrmärkten zum Besten gegeben hatte. Die Kinder fassten sich bei den Händen, hüpften im Kreis oder zu zweit herum, die Wirtin kam vor die Tür und wiegte sich in den Hüften, sogar der Wirt klopfte mit den Füßen den Takt dazu. Jetzt kamen auch die Fischer neugierig näher, und bald war Sinan von lauter fröhlichen Menschen umgeben, die mitklatschten oder ein kleines Tänzchen wagten. Nachdem Nicholas aufgegessen hatte, mischte er sich auch unter die fröhliche Schar.
    Sinan konnte die Augen nicht von ihm wenden. Tausend Lieder fielen ihm ein, und er spielte und spielte, bis Nicholas erschöpft und lachend um Einhalt bat. »Ihr habt uns allen für eine kurze Zeit so viel Freude geschenkt. Ihr müsst ein glücklicher Mensch sein. Aber wir müssen aufbrechen. Seid bedankt, Spielmann. Wollt Ihr mir Euren Namen verraten?«
    »Sinan«, entfloh ihm sein richtiger Name, obwohl er sich als Spielmann stets Stefano nannte.
    »Ein arabischer Name. Dann seid Ihr so etwas wie ein Vorbote der Heiligen Stadt, nicht wahr?«, Nicholas grinste wie ein Lausbub, scharte seine Getreuen um sich und verschwand hinter dem Hügel.
    Sinan beschirmte noch lange mit der Hand die Augen, bis er Nicholas’ Gestalt nicht mehr sah. Er hatte das Gefühl, etwas unsagbar Kostbares erhalten und gleichzeitig verloren zu haben. Der Kreuzzug der Kinder hatte plötzlich ein Gesicht bekommen. Heißer Zorn überwältigte ihn bei dem Gedanken, dass die dunklen Kräfte der Kirche sich des Knaben bemächtigt hatten. Auf welche Weise hatten sie seine Seele in ihre Gewalt gebracht? Hatten sie ihn benutzt wie sie Jesus benutzten, um ihre widerwärtigen Ziele zu erreichen? Wie gern hätte er ihn aus dem Haufen herausgezerrt, ihn an sich gedrückt und ihm die Wahrheit über das Leben ins Ohr geflüstert, aber das stand nicht in seiner Macht. Hilflos musste er mit ansehen, wie er und die Kinder in ihr Verderben marschierten.
    Und nicht nur Nicholas. Tausende, ja Millionen Verirrter, Opfer der Kirche, empfanden wie er, litten wie er, weil das Leiden zum Mittelpunkt ihres Glaubens gehörte. Ihr Jesus hatte am Kreuz gelitten, um sie zu erlösen. Leid bringt Erlösung. Was für eine ekelhafte Konsequenz!
    Wie immer, wenn Sinan diesen menschlichen Rückschritt bedachte, wuchs in ihm der Zorn und gleichzeitig die Überzeugung, dass er auf dem richtigen Weg war. Zum Glück gab es Menschen, die wie er dachten. Deren Seelen noch unberührt waren von dieser menschenverachtenden Lehre. Männer, die es leid waren, von weltfremden Dogmen regiert zu werden, von größenwahnsinnigen Päpsten, die wie eine giftige Krake die Welt mit ihren Verdummungen und Drohungen zu einer Vorhölle machten.
    »Nicholas«, flüsterte er, »du bist ein Engel, und was hast du davon? Man hat dich benutzt, man hat dich versklavt. Und ich werde dich nie wieder sehen.«

Der Kinderkreuzzug teilt sich
    Auf alten Handelsstraßen und Pilgerwegen hatte der Kinderkreuzzug Straßburg erreicht. Wieder lag eine große Stadt vor den Kindern, von der sie nur die Mauern und die herausragenden Kirchtürme zu sehen bekamen. Hinein durften sie nicht. Und es war immer noch nicht Jerusalem. Jedes Mal, wenn befestigtes Mauerwerk durch die Büsche schimmerte, schwoll ihre Hoffnung an, es möge sich wenigstens um die Vorstadt handeln. Die Einwände der Erwachsenen, dass sie erst an das große Wasser kommen müssten, wurden überhört oder

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