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Schatten eines Gottes (German Edition)

Schatten eines Gottes (German Edition)

Titel: Schatten eines Gottes (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jutta Ahrens
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hatte. Ein hagerer Mönch mit schmalen Lippen ärgerte sie schon seit Tagen, denn er wich nicht von ihrer Seite und schien sie mit seinem flammenden Blick zu verzehren. Allerdings meinte Agnes, darin weniger eine religiöse Glut zu entdecken.
    »Unser Kreuzzug zeigt arge Ermüdungserscheinungen«, spottete Agnes mit Blick auf die Vögel und die bettelnden Kinder. »Ist das Gottes Wille?«
    Der Mönch blickte starr geradeaus. »Das sind die Folgen der Selbstreinigung. Das Schwache, Verkommene und Gottlose wird ausgemerzt, so wie ein Obsthändler, bevor er zum Markt geht, die faulen Äpfel aussortiert und sie vom Karren wirft.«
    »Von christlichem Erbarmen haltet Ihr wohl nicht viel?«
    Der Mönch bekreuzigte sich mit blutleeren Lippen. »Wir sind für das Seelenheil da, nicht für die irdischen Bedürfnisse.«
    Du Heuchler! Ist es darum, dass du mir so oft in den Busen starrst, weil dir die irdischen Bedürfnisse egal sind?,
dachte Agnes verdrießlich und wünschte sich sehnlichst das Ende dieser Reise herbei, um endlich in Rom anzukommen. Waren sie erst einmal in Italien, dann würde sie den Weg dorthin schon allein finden.
    ***
    Auch Daniel und Damien schwächte der Hunger zusehends, und nun sollten sie sogar bald vor einer noch größeren Herausforderung stehen.
    An einem sonnigen Morgen erwachten die Brüder wie stets mit knurrendem Magen und wollten sich daran machen, etwas von dem Gras zu kauen, das im Schatten der Bäume noch frisch und grün war. Dort wuchsen manchmal auch schmackhafte Kräuter. Zu Mittag verteilten die Erwachsenen an jeden ein faustgroßes Stück Brot. Bis dahin mussten sie aushalten. Daniel rieb sich noch die Augen, als Damien ausrief: »Daniel, sieh nur, sieh!«
    Daniel schaute auf den Horizont, und dann erblickte er sie: die Mauern Jerusalems. Wehrhaft, bis in den Himmel ragend, von blendendem Weiß gekrönt. Soweit das Auge reichte, erstreckten sie sich nach Osten und Westen. Unbezwingbar für die Feinde Gottes umgaben sie die goldene Stadt, wo der Heiland zusammen mit den Engeln gelebt hatte.
    Die Brüder fielen einander in die Arme. Sie hatten es geschafft. Sie waren angekommen. Nun konnte es nicht mehr weit sein, und sie würden die hohen Tore erblicken mit den Erzengeln davor. Diese würden gütig lächelnd auf die Kinderschar blicken und alle Wunden heilen.
    Vier Tage später hatten sie die Tore immer noch nicht erreicht. Die leuchtenden Mauern Jerusalems waren hinter dichten grauen Wolkenwänden verschwunden, die Wege verschneit und steil. Jeder Fehltritt konnte das Ende bedeuten. Die Brüder hatten sich bei den Händen gefasst, mit den anderen umklammerten sie ihren kostbarsten Besitz, die Bücher. Ihre Finger und ihre vom feuchten Nebel voll gesogenen Umhänge waren steifgefroren. Unermüdlich stapften sie durch den Schnee. Die Sohlen ihrer Stiefel waren durchlöchert, doch manche besaßen überhaupt keine Schuhe und hatten Lappen um ihre Füße gewickelt. Oben auf dem Pass sollte es eine Abtei geben, bis dahin mussten sie aushalten. Aber wohin waren die Mauern Jerusalems entschwunden? Wie im Märchen schien eine böse Fee alles verzaubert zu haben in ein ödes, wildes, kaltes Land.
    Vor ihnen Schatten, hinter ihnen Schatten. Manchmal ein dumpfes Keuchen oder ein heller Schrei. Niemand drehte sich um. Nur vorwärts! Sie wussten, der zittrige Schatten vor ihnen war Pater Osmund. »Der Weg in die Hölle ist breit und bequem, der ins Paradies steil und beschwerlich«, hatte er gesagt, das war im Tal gewesen.
    »Wir werden wohl nie in Jerusalem ankommen.«
    Daniel hörte diesen Seufzer und drehte sich zu seinem Bruder um. »Damien! Das darfst du nicht sagen. Wir haben die Mauern gesehen. Böse Mächte verbergen sie hinter Nebeln, Eis und Schnee, aber ich bin sicher, dass dies hier unsere letzte Prüfung ist.«
    Es wurde noch kälter und die Luft dünner. Sie erschwerte das Atmen. Ihre Gesichter waren eisüberhaucht und blau gefroren. Da plötzlich lichtete sich der Nebel, als hätten die Engel ihn fortgeblasen, und über ihnen wölbte sich der Himmel wie ein dunkelblauer Schild. Die Luft war ganz klar und durchsichtig. Am Horizont hing ein roter Feuerball. Er tauchte die Umgebung in rotgoldenes Licht und ließ die Berggipfel purpurn erglühen. Graue Felszacken verwandelte er in funkelnde Türme und Zinnen.
    Die Brüder sanken bei diesem Anblick auf die Knie. Das Licht, das vom goldenen Jerusalem ausging, war so hell, dass es sie blendete. Der Thron Gottes strahlte wie eine

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