Schatten eines Gottes (German Edition)
Aufmerksamkeit widmeten. In den vordersten Reihen standen die Aufmüpfigen, die Ungeduldigen, die hinter vorgehaltener Hand an dieser Göttlichkeit zweifelten und die Führung gern selbst übernommen hätten. Nicholas erkannte an ihren finsteren Mienen, dass sie nicht nachgeben würden. Deshalb gab er nach.
»Ich werde über den Mont Cenis gehen, denn der Weg ist kürzer«, rief er mit seiner hellen klaren Stimme. Er war auf den Wagen geklettert, damit ihn alle sehen und besser hören konnten. »Aber ich bin nicht Euer König, der Euch Befehle erteilen könnte, ich möchte nur ein Licht sein, das vorangeht und leuchtet. Wer mir folgen will, soll es tun. Wer den Weg über den Brenner vorzieht, mag dorthin ziehen. Denn nicht der Weg ist entscheidend, sondern das Ziel, das wir alle miteinander haben: das goldene Jerusalem. Möge Gott verhüten, dass wir darum streiten und uns entzweien. Der Zug wird sich teilen, und jeder wählt sich seinen Anführer selber.«
Diese Rede wurde allgemein begrüßt, und wirklich bildeten sich zwei Gruppen, die von nun an getrennte Wege gingen. Nicholas ließ sich seufzend auf die Teppiche nieder, mit denen der Wagen ausgelegt war. Sie waren schmutzig und zerfetzt. Viele Kinder, die nicht mehr weiter konnten, hatten dort oben eine Weile gesessen. Nicholas war oft zu Fuß marschiert. Auch die beiden Hausmädchen Elisa und Lisbeth, der Knecht Albert und Adam und Merte hatten ihre Plätze immer wieder anderen zur Verfügung gestellt. Da sie in unmittelbarer Nähe von Nicholas reisten, waren sie in besserer Verfassung als die übrigen.
Elisa und Albert nahmen diese Bevorzugung gern an, Adam jedoch war entsetzt über das Leid, das er unterwegs erlebt hatte und das weder Gott noch Nicholas hatte lindern können. Immer häufiger zweifelte er an dem Sinn dieses Unternehmens. Sie alle waren doch von Köln aufgebrochen mit Fröhlichkeit im Herzen und lauteren Absichten. Nichts Böses oder Unrechtes hatten sie gewollt, nur das heilige Land wollten sie schauen, die Engel, die goldenen Türme, um Gott noch höher zu preisen und die Ungläubigen mit der Flamme ihres Glaubens zu erleuchten. Nun aber schien es, dass Gott sich abwandte von diesem Kreuzzug. Vielleicht hatte Nicholas seine Botschaft auch missverstanden. Denn Gott konnte nicht wollen, dass soviel frommer Überschwang im Elend endete, dass Tausende von begeisterten Kindern litten oder starben.
Adam war in der kurzen Zeit zum Manne geworden. Äußerlich war er noch der Knabe, der aus seiner Köhlerwelt ausgezogen war, aber sein Inneres war zu großem Ernst gereift, und seinen Verstand hatte er nicht zusammen mit seiner Inbrunst für das Vorhaben begraben. Vielleicht hätte er mehr Geduld aufgebracht, wenn die kleine Merte nicht gewesen wäre, für die er verantwortlich war. Der Gedanke, sie könne sterbend am Wegesrand zurückbleiben wie so viele, brachte ihn an den Rand der Verzweiflung. Niemals durfte er das zulassen. Mochte das goldene Jerusalem dahinfahren! Nie würde es ihm seine kleine Schwester ersetzen. Und dann war da auch noch Lisbeth. Sie waren sich beide nähergekommen. Adam stellte sich oft vor, wie es wäre, mit Lisbeth in einer kleinen Stadt zu leben und viele Kinder mit ihr zu haben. Er selbst wollte ein Handwerk erlernen, dann Meister werden und eine eigene Werkstatt eröffnen. In seinen Träumen schwankte er noch. Färber und Gerber rochen nicht gut, ein Radmacher oder Sattler wäre besser. Oder ein Schmied? Dafür war er wohl zu schmächtig. Mit Holz arbeiten, das wäre etwas. Zimmermann oder Tischler, am liebsten etwas aus Holz schnitzen. Wunderbare Figuren, wie sie in den Kirchen standen. Eine Madonna schnitzen oder einen Jesus am Kreuz. Nein, das wäre schon vermessen, so geschickt war er nicht.
Oftmals hatte er solche Überlegungen angestellt und sich seine Zukunft in rosigen Farben ausgemalt, während das Elend den Zug der Kinder begleitete. Als er die Mauern von Straßburg erblickte, hatte er das Gefühl, hier ließe sich gut leben. Wenn er weiter zog, würde er mit Nicholas gehen. Über das schreckliche Gebirge, und Merte würde wieder einmal weinen und nach Hause wollen. Was sollte er dann tun, wenn sie von tiefen Schluchten und heulenden Wölfen umgeben waren? Dann war es zum Umkehren zu spät. Deshalb fasste er sich ein Herz. Während Nicholas noch bemüht war, den Streit um den rechten Weg zu schlichten, weihte er Lisbeth in seine Pläne ein. Er fragte sie, ob sie seine Frau werden wolle. Statt einer Antwort
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