Schatten eines Gottes (German Edition)
Gefäß und salbe deine Stirn mit dem heiligen Öl des Mithras.«
Emanuel wusste nicht, wie ihm geschah, aber er tat das Verlangte. Er hätte alles getan, um diesen Mann zu besänftigen.
Sinan beobachtete ihn mit schmalen Augen. Als Emanuel ihm das Gefäß zurückgab, sagte er: »Du musst mir vergeben. Ich bin sehr froh, dass du lebst und dich zu uns bekennst. Wir werden jetzt den Bruderkuss tauschen.«
Emanuel fühlte sich heftig umarmt und auf beide Wangen geküsst. Das war zu viel für ihn. Er begann unkontrolliert zu zittern.
»Hab keine Furcht, dir geschieht nichts, wir sind Brüder.«
»Brüder?«, flüsterte Emanuel. Er konnte sich nicht bewegen, die Umarmung nicht erwidern.
»Ja. Du bist Sarmad, der Ewige. Ein erhabener Name. Mein Name Sinan bedeutet Speerspitze. Ich hoffe, wir werden unseren Namen gerecht.«
Jetzt sah Emanuel es an Sinans Augen. »Ihr – ihr habt geweint?«
Sinan wischte sich kurz mit dem Ärmel über die Augen. »Ich habe noch nie geweint. Ich habe noch niemals so gefühlt, es hat mich überrascht, ich musste hinausgehen.«
»Und ich muss mich setzen«, murmelte Emanuel.
»Ich habe einen Bruder!« Sinans Augen ruhten fast zärtlich auf ihm.
Emanuel wusste noch nicht, ob er sich darüber genauso freuen sollte wie Sinan, aber seine Erleichterung war groß. Die Dämonen hatten ihn verschont.
»Du bist mir doch nicht mehr gram wegen der Sache vorhin?« Sinan trat hinter Emanuel und legte ihm beide Hände auf die Schulter. »Ich musste es tun, es war ein Befehl des Meisters, und das Pergament ist von höchster Wichtigkeit.«
»Der Meister« – Emanuel betonte bitter das Wort – »scheint bei seiner Welterneuerung über Leichen zu gehen.«
»Wenn es nötig ist. Alle großen Männer haben das getan. Mich hat er zum Assassinen ausgebildet. Du wirst von ihnen gehört haben.«
»Ja. Erbarmungslose Mörder sind das.«
»Gut sein können wir später. Jetzt müssen wir erbarmungslos sein. Aber dieser Befehl des Meisters ist undurchführbar. Ich werde nach Rom gehen und das klären.«
»Du würdest ihn verfehlen. Er will nach St. Marien kommen, Octavien und ich sollen hier auf ihn warten.«
»Nein, du irrst dich. Der Meister wartet in Rom auf mich. Ich hatte den Befehl, das Pergament zu beschaffen und es ihm zu bringen. Dafür sollte ich dich foltern, bis du das Versteck verrätst.«
Emanuel schlug die Hände vor das Gesicht. »Heilige Muttergottes! Nathaniel hat das befohlen?«
»Ich sagte doch«, entgegnete Sinan ungeduldig, »die Sache ist für ihn sehr wichtig. Du hast ihm eine Fälschung untergeschoben. Was hätte er glauben sollen?«
»Das werde ich ihm nie verzeihen.«
»Du nimmst das zu persönlich. Schon dem Hauch eines Verrats muss nachgegangen werden. Scheitert das Ziel, wäre das eine Katastrophe. Viele großartige Männer würden ihr Leben verlieren, und wir würden zurückgeworfen in die Finsternis.«
»Aber das Pergament ist verschwunden. Es wurde uns wirklich gestohlen.«
»Ich weiß, du hast die Wahrheit gesagt. Wir haben denselben Vater und dieselbe Mutter. Du bist Blut von meinem Blut. In unserer Familie gibt es keine Verräter.«
»Und Octavien? Verdächtigt der Meister ihn nicht?«
»Der Meister sagt, die Tempelritter sind der Sauerteig, der das Brot der Erkenntnis aufgehen lässt und zur Reife bringen wird. Octavien ist der Sohn eines Tempelritters und damit sakrosankt.«
Emanuel nickte. Er hätte gern erwähnt, wie ungerecht das sei, schließlich war Octavien das Pergament gestohlen worden, aber er war wie ausgelaugt. »Nun«, erwiderte er matt, »das Pergament ist verschwunden. Wenn es tatsächlich irgendwo auftaucht, wird es für die Bruderschaft sicher nicht zum Vorteil sein.«
»Deshalb muss ich so schnell wie möglich nach Rom. Der Meister wird einen Ausweg finden.«
Emanuel war das nur recht. Die Todesangst und die Erkenntnis, einen Mörder zum Bruder zu haben, hatten ihn völlig erschöpft. Er wollte nur noch schlafen. Vielleicht stellte sich am nächsten Morgen heraus, dass alles nur ein Traum gewesen war.
Agnes auf dem Weg nach Rom
Der Kinderkreuzzug war kurz vor der Auflösung. Die Mönche meinten, der Ort sei wohl nicht der von Gott auserwählte, sie müssten weiterziehen nach Pisa. Dort würde sich das Wunder der Teilung ereignen. Viele folgten ihnen, auch Nicholas. Die meisten blieben zurück, weil sie keinem mehr glaubten. Der heilige Kreuzzug, so erkannten sie, war von jenem Ungemach begleitet, das die Schwachen stets in den Staub
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