Schatten eines Gottes (German Edition)
Wahrheit!«
»Was geschenkt?«
»Diesen Unterstand. Eine gute Frau, hat ein gutes Herz.«
Octavien räusperte sich ungeduldig. »Ich habe gefragt, wohin sie gegangen ist.«
»Weiß ich nicht, Herr. Wirklich nicht. Ich habe nichts getan, ich bin nur ein armer …«
Octavien wandte sich verdrossen von dem Gejammer des Alten ab. Zu spät! Agnes war fort, und er hatte keine Ahnung, wo er sie suchen sollte. Nach ein paar Schritten drehte er sich um und warf dem Alten eine Münze vor die Füße. Dieser kam wie ein Wiesel hinter seinem Stand hervor und klaubte sie auf. »Danke, edler Herr, danke!«
Sie hat den Stand einfach verschenkt
, dachte Octavien,
aber weshalb? Wollte sie so schnell wie möglich Mainz verlassen? Oder hat sie in der Stadt einen besseren Platz gefunden?
Diese Hoffnung trieb ihn auf den Marktplatz vor dem Dom. Hier drängten sich Buden und Stände, an denen eine Unzahl von Waren feilgeboten wurde. Marktfrauen priesen lautstark ihre Waren an, doch keine war darunter, die Kirschkerne als Tränen der heiligen Agathe verkaufte.
Überall roch es nach Essen, stiegen Dämpfe aus Schüsseln und Pfannen, die auf rußigen Dreifüßen standen. Magere Hunde schnüffelten nach herabgefallenen Bissen. Octavien warf ihnen etwas Brot zu. Zwei fette Sauen wurden vorbeigetrieben, eine ganze Ziegenherde zog meckernd vorüber. Magere Kinder lungerten überall herum. In den Händen einen gestohlenen Apfel oder einen Wecken, flitzten sie durch die schmalen Durchgänge. Octavien musste über sie lachen. Früher hatte er die Märkte gemieden wie der Teufel die Hostien. Was hoffte er hier zu finden? Eine helle Stimme rief: »Leute, ich habe wunderbare Sachen für euch. Die echten Strohhalme aus der Krippe des Jesuskindleins, einen Weinkrug aus Kana und Leinenbinden des Lazarus, der von den Toten auferweckt wurde.«
Octavien wandte sich hoffnungsvoll um zu dieser Stimme, aber es war nicht Agnes. Ihn überfiel ein jäher Schmerz. Nun, da er sie verloren hatte, erschien sie ihm das Begehrenswerteste auf Gottes weitem Erdboden. Wenn sie inmitten dieses Markttreibens plötzlich auf ihn zukäme, dann würde er sie vielleicht sogar zur Frau nehmen, auch wenn seine Mutter wohl der Schlag träfe.
Octavien saß schlecht gelaunt in der Gaststube ›Zur goldenen Traube‹ vor einem Mittagessen, das er nicht angerührt hatte. Die Eberkeule konnte er sich für unterwegs einpacken lassen. Der Pferdebursche kümmerte sich bereits um sein Tier. Er wollte so schnell wie möglich Mainz verlassen und wünschte, er wäre bereits weit fort. Nicht nach St. Marien, dorthin zog ihn nichts. Vor allem hatte er wenig Lust, sich nach wie vor mit diesem unseligen Pergament zu beschäftigen, aber er hatte es Emanuel versprochen.
***
Emanuel war dabei, aus dem Bücherfundus, der ihm wieder zur Verfügung stand, die Schrift eines gewissen Thales von Milet herauszusuchen – man hatte sie ihm empfohlen – als er das Gefühl hatte, nicht mehr allein zu sein. Er drehte sich um. In der Tür stand ein gut aussehender junger Mann, gekleidet in eine eng gegürtete Tunika aus hellblauer Seide. Seine Füße steckten in leichten Sandalen. Das lange schwarze Haar war zu einem Zopf aufgesteckt und wurde durch ein silbernes Stirnband gehalten.
Emanuel krauste leicht die Stirn. In Neubabylon hielten sich stets Gäste auf, die Emanuel nicht alle kannte, aber niemand drang, ohne anzuklopfen, bei ihm ein. »Ihr wünscht?«, fragte er kühl.
»Ich wünsche Euch zu sprechen.«
Stimme und Haltung des Mannes waren von einer Selbstsicherheit, die beinahe schon bedrohlich wirkte.
Emanuel legte bedächtig das Buch zur Seite. »Und mit wem habe ich die Ehre?«
»Ich bin Sinan al Abu Yahya al Karim.«
An arabische Namen hatte sich Emanuel inzwischen gewöhnt. »Nehmt bitte Platz, Sinan al Karim. In welcher Angelegenheit wünscht Ihr mich zu sprechen?«
Sinan setzte sich ohne Umschweife. »Ich bin kein Freund von langen Vorreden. Es geht um ein Pergament, das meinem Meister sehr wichtig ist.« Seine schwarzen Augen bekamen einen mörderischen Glanz. »Wo ist es?«
Emanuel zuckte innerlich zusammen. Was wollte dieser Mann? Verfolgte er eigene Pläne? Beherrscht erwiderte er: »Der Meister – ich meine natürlich Bruder Nathaniel – weiß bereits, dass es uns gestohlen wurde.«
»Uns?«
»Ja. Ich war in Begleitung von Octavien de Saint-Amand. Er …«
»Und wo befindet sich dieser Octavien im Augenblick?«, unterbrach Sinan ihn barsch. »Nicht an Eurer
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