Schatten eines Gottes (German Edition)
tritt, wie es immer schon gewesen war. Sie wussten jetzt, dass sie das heilige Jerusalem niemals erreichen würden, und wollten nur noch nach Hause. Sie hatten nichts gewonnen, aber alles verloren, sogar die Hoffnung.
Auch Agnes hatte sich nun endgültig verabschiedet. Ein wenig Barschaft besaß sie noch, weil sie auf dem Marsch kaum etwas ausgegeben hatte. Auch die Goldmünze befand sich noch im Saum ihres Kleides. Nun war sie auf sich allein gestellt, ein Wagnis für jeden Reisenden, für eine junge Frau höchst gefährlich. Doch zum Glück fand sie schon am zweiten Tag die Gelegenheit, sich einigen Pilgern anzuschließen.
Bald gesellte sich ein junger Mann zu ihr. Höflich lüftete er seine Kappe. »Verzeiht mir meine Dreistigkeit, Jungfer, Ihr reist allein? Darf ich Euch meinen Schutz anbieten?«
Agnes wollte ihn schon ärgerlich zurechtweisen, doch der Mann kam ihr zuvor. »Darf ich mich vorstellen: Ulrich von Salenberg aus Lübeck, ein armer Schreiber, aber immer gern zu Diensten.«
Agnes musterte ihn kritisch. Der Mann mochte um die zwanzig sein, hatte langes, dünnes Haar, freundliche blaue Augen und trug seine Schreiberausrüstung samt zusammenklappbarem Schemel auf dem Rücken. Seine Weste war abgetragen, die Hose am linken Knie geflickt. Der Mann machte einen ordentlichen Eindruck. Er war kein eingebildeter Schönling und auch kein vor Hochmut platzender Ritter. Einfach ein Handwerksbursche.
Ihr erster Ärger über die Belästigung verflog. »Wo liegt denn Lübeck? Von dieser Stadt habe ich noch nie etwas gehört.«
»Eine wunderschöne Stadt an der Ostsee, Jungfer …?«
»Agnes. Wenn die Stadt so wunderschön ist, weshalb seid Ihr dann hier?«
»Ich befinde mich auf einer Pilgerreise nach Rom. Unterwegs verdiene ich mir die Weiterreise mit Gelegenheitsarbeiten. Wenn ich genug Geld zusammenhabe, ziehe ich weiter. Aber meine Ausrüstung ist bereits abbezahlt.« Dabei klopfte er auf seinen Ranzen.
»Hm. Danke für Euer Anerbieten«, murmelte Agnes. »Es ist ja immer besser, wenn eine Dame männliche Begleitung hat, nicht wahr?«
Der junge Mann errötete. »Ich begleite Euch, wohin Ihr wollt, Jungfer Agnes. Darf ich mir die Frage erlauben, weshalb Ihr nach Rom wollt? Seid Ihr auch auf einer Pilgerreise?«
»Nein. Ich will dort Handel treiben.«
»Seid Ihr denn der Sprache mächtig?«
»Noch nicht. Ihr denn?«
Ulrich nickte.
»Dann könnt Ihr sie mir auf der Reise beibringen, was haltet Ihr davon?«
Der Schreiber war begeistert. »Eine wunderbare Idee!«
»Ja«, erwiderte Agnes trocken. »Unter einer Voraussetzung: Wir reisen als Bruder und Schwester, wobei ich betone, dass ich das auch so meine.«
»Ich bin ein Ehrenmann, Jungfer Agnes.«
Das sagen sie alle,
dachte Agnes, aber sie lächelte. »Gut, dann ist das abgemacht. Und nennt mich nicht Jungfer. Ich bin einfach nur Agnes, und Euch werde ich Ulrich nennen.«
Der Kratzfuß fiel ungelenk, aber stürmisch aus. »Ich bin Euer ergebenster Diener, Agnes.«
Emanuel und Sinan
Emanuel wanderte unruhig durch die Straßen Neubabylons. Das Erlebnis mit Sinan hing immer noch wie ein Fallbeil über ihm. Der Schatten des Mithras lastete jetzt wie ein Fluch über St. Marien und Neubabylon. Hier roch es nach Folter und Tod.
Schon immer war die kleine Stadt von einem dichten Wald umgeben gewesen, dieser Wall aus Bäumen war ihr Schutz. Jetzt erschien er Emanuel bedrohlich wie die Mauer eines Kerkers. Dieser zugegeben luxuriöse Kerker wurde beherrscht von einem zwielichtigen Abt und seinen ihm hörigen Dienern, die ihn Meister nannten und jeden gnadenlos opferten, der nicht ihr Spiel spielte, wenngleich er auch die milden Töne auf der Partitur der Macht beherrschte.
Nur durch einen schier unglaublichen Zufall war Emanuel einem grausamen Tod entkommen. Aber sein Bruder war eine Kreatur Nathaniels und mithin unberechenbar. Nicht Mitgefühl, sondern die Familienehre hatte ihn bewogen, den Bruder zu verschonen. Solange Emanuel sich in seiner Gewalt befand, fühlte er sich seines Lebens nicht sicher, denn in Sinans Augen hatte er nicht nur Ergebenheit gegenüber den Wünschen des Meisters gelesen. Die pure Mordlust hatte ihn angestarrt, das Vergnügen zu quälen. Er vermochte kaum noch, sich auf seine geliebten Bücher zu konzentrieren.
Es war schwer, sich an einen solchen Bruder zu gewöhnen. Wer mochte wissen, was sich hinter seinem glatten, freundlichen Brudergesicht verbarg? Welche Befehle hin und her gingen und welche Pläne von der
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