Schatten eines Gottes (German Edition)
darum, ungestört ihre Notdurft verrichten zu können. Die braven Leute wandten sich ab, und sie verschwand wie ein Reh im Unterholz. Sie kannte diesen Wald nicht, aber ihre Sinne waren für diese Umgebung geschärft und standen im Einklang mit allem, was um sie herum schwankte, knackte und flüsterte. Die Knechte jedoch fürchteten sich vor dem Unbekannten und würden sie nicht sehr weit verfolgen. Vielleicht dachten sie, sie wäre von bösen Mächten geraubt worden?
Als sie davongestürmt war, hatte sie sich keine Gedanken über das Morgen gemacht. Aber alles würde besser sein als das Kloster. Nun saß sie auf der Lichtung und fühlte sich fast wie zu Hause. Allerdings besaß dieser Ort keine Speisekammer und kein Bett. Deshalb konnte sie nicht bleiben, aber er war immerhin geeignet, ihre Gedanken zur Ruhe kommen zu lassen. Zum Glück war es ein sonniger Tag, der gar nicht erst schwarze Gedanken aufkommen ließ.
Sie legte sich ins Gras und beobachtete die vorüberziehenden Wolken. Wer den Kutten und den Pfaffen nachlief, der hatte ihrer Meinung nach seinen Verstand abgegeben wie einen Hut, den man an den Nagel hängt. Und hatte man dies erst einmal getan, zwang die Kirche einen bald auch schon, den Rock abzulegen, der Freiheit hieß. Nackt und bloß sollte man zu ihr zurück kriechen und ihr dafür danken, dass sie einem ein paar Lumpen zuwarf.
Agnes war jetzt frei wie die dahinsegelnden Wolken. Frei wie der Wind, wie der Hirsch, wie die tanzenden Wellen in einem Teich. Das war eine ganze Menge Freiheit. Aber der Wind und die Wolken mussten nicht essen. Agnes erlaubte sich einen kurzen Seufzer. Irgendwo musste diese ungeplante Flucht enden, irgendwo musste sie eine Zuflucht und ihr Auskommen finden. Aber sie war zuversichtlich. Unten am Rheinufer führte die Handelsstraße entlang. Viele Menschen strömten dort in beiden Richtungen auf und ab. In diesem Menschenstrom würde sie sicher untertauchen können. Sie musste nur noch ein paar Tage im Wald ausharren, das traute sie sich zu.
***
Zwei Wochen später schlenderte Agnes durch die Straßen von Mainz und hielt Ausschau nach etwas Essbarem. Auf der Straße hatte sie sich mit Wahrsagen etwas Essen verdient. Haar und ihr Gesicht hatte sie mit Schlamm eingerieben, um ihre Schönheit zu verbergen. Dennoch war sie von einigen Männern bedrängt und belästigt worden. Sie glaubten, eine junge Frau ohne Anhang sei leicht zu haben. Agnes hatte mehr als einmal ihr Messer zücken müssen, um sich ihrer zu erwehren. Zum Glück hatte die Drohgebärde stets genügt.
Mainz gefiel ihr. Allerdings musste sie jetzt damit beginnen, irgendwie ihr Brot zu verdienen. Mit ihren rotbraunen Locken, den großen grünen Augen und der milchweißen Haut, die dort, wo die Kleider sie nicht bedeckten, den Schimmer dunklen Bernsteins angenommen hatte, war sie ein bildhübsches Mädchen. Wohin sie auch kam, die Männer starrten sie lüstern an und hielten sie für eine leichte Beute. Agnes hätte sich auf diesem Wege leicht etwas verdienen können, zumal sie festgestellt hatte, dass Mädchen in ihrer Situation kaum ein anderer Weg blieb, als sich feilzubieten. Doch sie hatte auch gesehen, dass er zur Verwahrlosung, zu Elend und Tod führte. Eine Frau, die sich nur einmal weggeworfen hatte, besaß dieses Stigma für alle Zeiten. Jeder meinte, sich an ihr vergreifen zu dürfen. Niemand beschützte sie, denn sie war eine Hure. Und so blieb ihr nichts übrig, als sich weiterhin zu verkaufen. Der Abstieg war vorgezeichnet. Sie verlor alles, ihre Würde, ihr Selbstwertgefühl und am Ende ihr Menschsein. Man behandelte sie wie Kehricht, und wenn sie schwanger wurde, half ihr niemand.
Agnes hatte diese Frauen verachtet und tat dies immer noch. Keinesfalls würde sie so ein Leben führen. Schließlich war sie einmal die Geliebte eines von Eibenau gewesen, wenn er auch ein Lump gewesen war. Er hatte sie mit Gewalt genommen, das konnte man ihr nicht anlasten, sie selbst hatte ehrbare Absichten gehabt. Na, und außerdem wusste niemand davon. Ein Kind hatte er ihr nicht gemacht, soviel stand fest. Agnes war sehr erleichtert gewesen, als ihr Monatsfluss wieder eingesetzt hatte.
Mit Stolz und Verachtung ließ sich eine Weile leben, aber sie wusste auch, dass die Lanze des Hungers diese beiden Recken bald aus dem Sattel heben würde. Vielleicht würde sie anfangs stehlen müssen. Gefährlich, aber immer noch nicht so schlimm wie herumhuren. ›Not kennt kein Gebot‹, sagte der Volksmund, womit sie ihr
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