Schatten eines Gottes (German Edition)
Junge vor dem Gekreuzigten und betete. Der Knabe war keiner von jenen, die ihre fromme Pflicht durch ein hastiges Ave-Maria und ein oberflächliches Kreuzzeichen ableisteten. Sein Gebet kam aus einem verwirrten und verzweifelten Herzen. Der Mönch, der gerade sein Gebet verrichtet hatte und dem Ausgang zustrebte, hörte ihn und verbarg sich neugierig hinter einer Säule.
»Warum müssen deine Geschöpfe so leiden? Viele meinen, du wollest sie prüfen, doch weshalb prüfst du immer nur die Armen? Und auch die unschuldigen Kinder? Die Kirche sagt, es sei dein unerforschlicher Wille, doch das kann ich nicht glauben. Ich zweifele nicht an dir, Herr, ich zweifele an den Worten der Reichen und Mächtigen, die in deinem Namen sprechen und die es sich in deinem Namen gut gehen lassen. O Herr, deine Jünger waren einfache Fischer und Handwerker. Bitte sage mir, was ich tun soll, damit ich keinen Irrweg einschlage. Amen.«
Eine Weile noch harrte der Knabe mit gesenktem Haupt aus. Es war nicht zu erkennen, ob er auf eine Antwort lauschte oder nur ausruhen wollte. Schließlich nahm er eine recht große Umhängetasche vom Boden auf, schulterte sie und trat hinaus aus dem düsteren, kühlen Bau ins helle, warme Sonnenlicht.
Bruder Bernardo war zutiefst bewegt. Lange hatte er kein so aufrichtiges Gebet gehört. Eine innere Stimme drängte ihn, dem Knaben zu folgen, ihm den richtigen Weg zu weisen, doch was konnte er, ein unbedeutender Mönch, diesem unschuldigen Kinderherzen raten? Welche Antwort konnte er ihm geben? Doch nur die, dass die Lüge die Welt regierte, eine so große und abscheuliche Lüge, dass sie die Wahrheit des Evangeliums verdunkelte.
Wer mochte dieser feingliedrige Knabe mit dem dunkelblonden Pagenkopf sein? Seinen Kleidern nach zu urteilen zweifellos ein Sohn aus gutem Hause. Als der Knabe sich kurz umsah, konnte Bernardo einen Blick auf sein Gesicht werfen. Er war überrascht, als er in dem Jungen Nicholas Hardevust erkannte, den Sohn eines reichen Kaufmanns aus der Rheingasse. Die Hardevusts waren ein altes und angesehenes Kölner Geschlecht.
Eher geht ein Kamel durchs Nadelöhr, als dass ein Reicher in den Himmel kommt,
ging es ihm durch den Kopf, als er dem Knaben Richtung Marienplatz folgte. Am Marienbrunnen stellte dieser seine Tasche ab und strich sich ein paar verklebte Strähnen aus der verschwitzten Stirn. Plötzlich wie auf ein stummes Kommando strömten von allen Seiten Männer, Frauen und Kinder herbei. Die Männer zögernd, ihre schmuddeligen Kappen in den Händen. Ihnen folgten die Frauen. Wäscherinnen mit grauen Gesichtern, dralle Bademägde in tief ausgeschnittenen Kleidern und Dirnen mit roten Hauben auf grellfarbigen Perücken. Kinder reckten ihre mageren Hälse.
Sie scharen sich um ihn wie die Menschen bei der Bergpredigt um den Herrn,
dachte Bernardo.
Woher kommen alle diese Menschen, und was wollen sie?
Er mischte sich unter sie und näherte sich so dem Knaben. Um seine auffälligen Gesichtszüge zu verbergen, zog er sich die Kapuze tief ins Gesicht.
Der Knabe griff in die Tasche und winkte den Kindern. Mit lautem Geschrei drängten sie sich um ihn. Die Tasche war voller Zuckerwerk, Gebäck, hübschen bunten Bändern und Glasperlen. Als Nicholas die Sachen verteilte, mussten die Frauen eingreifen, um die Kinder in ihrer Freude zu bändigen. Die wegen jahrelanger Entbehrungen viel zu erwachsenen Gesichter der kleinen Buben und Mädchen wurden wieder rund und kindlich, ihre Wangen röteten sich, und aus ihren Augen leuchtete flüchtig das Paradies.
Aus einem kleinen, allein stehenden Haus am Ende der Straße trat jetzt ein großer, grobknochiger Mann heraus, dem jedermann bereitwillig, fast scheu Platz machte. Er trug einen grauen, gegürteten Leinenkittel und feste Stiefel. Mit energischen Schritten marschierte er auf den Knaben zu, nahm vor ihm seine Kappe ab und nickte ihm kurz zu. Sein kantiger Schädel war kahl, sein Gesicht bartlos, aber voller Stoppeln.
Die Menschenmenge kam in Bewegung und trug Bernardo noch näher an den Knaben Nicholas heran. Er hörte, wie dieser den grobschlächtigen Mann begrüßte. Bernardo war erschüttert, denn er hatte den Mann erkannt. Es war niemand anderes als Meister Hans, wie in Köln allgemein der Henker genannt wurde, obwohl sein richtiger Name Bartel war.
Dem Henker unterstanden die Dirnen, Abdecker und Kloakenreiniger. Niemand wollte mit diesem unehrlichsten aller Berufe in Verbindung gebracht werden. Wenn die guten Leute dem Meister
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