Schatten eines Gottes (German Edition)
unterwegs begegneten, wechselten sie die Straßenseite, und hinter seinem Rücken schlugen sie heimlich das Kreuzzeichen.
Der Henker murmelte eine Erwiderung und senkte offensichtlich verlegen den Blick. Dann fingerte er umständlich aus seiner Kitteltasche einen bekritzelten Fetzen und hielt ihn Nicholas mit linkischer Gebärde hin.
Der Knabe überflog das Geschriebene, nickte mehrmals und steckte den Lappen anschließend in einen Lederbeutel, den er um den Hals trug. Daraufhin überreichte er ihm eine wohl gefüllte Geldkatze. Die große Pranke des Mannes schloss sich darum. Bernardo hörte den Mann sagen: »Alle hier beten für dich.«
»Ja, das tun wir«, bestätigte eine kleine, magere Frau, die sich jetzt nach vorn drängte. »Du bist doch unser Engel, der Engel von Köln.« Ihre Stimme zitterte vor Rührung.
»Du sollst das nicht sagen, Meisterin«, wies der Knabe sie zurecht. »Ich befolge nur, was unser Herr Jesus Christus gesagt hat, denn es steht geschrieben, was ihr einem der Geringsten unter euch tut, das habt ihr mir getan.«
Du bist der Engel von Köln.
Diese Worte gingen Bernardo nicht aus dem Kopf.
Wer lenkt diesen Knaben,
fragte er sich,
der sich nicht scheut, mit seinen guten Stiefeln durch die Gossen der Elendsviertel zu waten, um die Ärmsten zu besuchen, und der ohne Scheu mit dem Henker spricht? Ist er wirklich ein Engel, oder ist er im Bunde mit dunklen Mächten, die ihn beschützen?
Nein, das Gebet des Knaben um die rechte Führung, das war nicht die Einflüsterung Satans. Bernardo spürte, da gab es etwas, das größer war als die Beschenkung der Kinder am Marienbrunnen. Groß und ganz nah war es, er musste es nur noch denken, die Flügel seines Geistes mussten sich öffnen, dann würde Gott ihm das Wunder offenbaren und ihm den Weg zeigen, um den der Knabe gebetet hatte und für den Bernardo sich zu dem Leben bei den minderen Brüdern entschlossen hatte.
Er wurde noch Zeuge, wie der Knabe der zierlichen Frau in das Haus des Henkers folgte, dann trat er nachdenklich den Rückweg an. Als er an der Kirche St. Peter vorüberkam, in der er den Knaben hatte beten hören, stolperte er über eine der Kirchenstufen; er stürzte, und als er mit dem Kopf gegen eine Kante schlug, blendete ihn ein greller Blitz. Eine Weile lag er regungslos auf dem Boden, nichts denkend, nichts fühlend, in seinem Kopf war nur Schwärze. Als er nach einer Weile wieder zu sich kam, blickte er in bärtige, schmutzige, aber mitfühlende Gesichter. Jeder der Männer hatte ihn kräftig unter einem Arm gepackt. »Geht es wieder, Pater?«
Bernardo nickte benommen, er hob den Kopf, und dann überkam ihn plötzlich eine Vision. Er sah den Weg der Unschuld, der die Christenheit von der Lüge reinigen würde, wie in einem blank geputzten Spiegel. »Ja, o Herr!«, stieß er mit Inbrunst hervor, »er wird sie führen in das Gelobte Land, ich danke dir für deine Gnade. Halleluja!«
Dann erst wandte er sich an seine beiden Helfer. »Seid bedankt, ihr guten Leute, aber es geht schon wieder.« Er stützte sich kurz an der Kirchenwand ab, dann machte er sich mit unsicheren Beinen wieder auf den Weg. Nach ein paar Schritten drehte er sich um und breitete die Arme aus. »Ich habe keine Zeit«, rief er mit glänzenden Augen, »ich muss die Freudenbotschaft meinen Brüdern verkünden.«
Die beiden Männer bekreuzigten sich und sahen sich an. In ihren Blicken lag ein Hauch von Glückseligkeit. Sie waren sich einig, dass ihnen soeben der Herr erschienen war.
***
Meisterin Bartel bewirtete Nicholas mit einer kräftigen Suppe, Keksen und warmer Milch wie jedes Mal, wenn er in ihr Haus kam. Nichts in der behaglich eingerichteten Wohnstube deutete auf seinen schrecklichen Bewohner hin. Auf dem Tisch lag ein gutes Leinentuch, und eine Vase mit Blumen stand darauf. Alles war peinlich sauber. Die blank gescheuerten Dielen bedeckte ein aus Hanf geflochtener Teppich, geblümte Vorhänge machten das Zimmer freundlich, und auf einem Regal lagen sogar zwei Bücher. Zwei blasse, halbwüchsige Jungen saßen am offenen Fenster und lasen. Als Nicholas eintrat, erhoben sie sich artig und begrüßten ihn scheu. Dann hockten sie sich wieder ans Fenster und setzten ihre Lektüre fort.
Nicholas trank seine Milch, knabberte an den Nussplätzchen und ließ sich von der Meisterin von den Vorkommnissen im Viertel unterrichten. Sie war eine zierliche, verhärmt wirkende Frau, aber Nicholas wusste, dass sie zäh war wie Ziegenleder. Ihr Mann kuschte vor
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