Schatten eines Gottes (German Edition)
ihr, und was sie für richtig hielt, setzte sie durch. Sie hatte nicht gewollt, dass ihre Jungen in die Fußstapfen des Vaters traten, so wie es Brauch gewesen wäre. Pater Osmund, der gutmütige Gemeindepfarrer von St. Columba, hatte sich bereit erklärt, den Knaben, die sonst niemand unterrichtet hätte, das Lesen beizubringen. Frau Bartel hoffte, sie würden später einmal in einer weit entfernten Stadt, wo niemand sie kannte, als Schreiber unterkommen.
Nicholas beobachtete die beiden Knaben, die selten das Haus verließen und daher sehr blass waren. Mit gekrümmten Rücken beugten sie sich über ihre Bücher, verschlossen und menschenscheu. Nicholas war es bisher nicht gelungen, ihnen ein Lächeln zu entlocken. Er nahm sich vor, ihnen das nächste Mal ein Geschenk mitzubringen. Vielleicht würden sie sich über ein Buch freuen.
»Ein Buch? Ja, das wäre ein Gottesgeschenk«, seufzte Frau Bartel, als sie Nicholas draußen vor der Tür verabschiedete. Aber das dürfe er nicht einmal erwägen. Die Bücher, die er bei ihnen sehe, seien ja nur Leihgaben, die der gütige Pater Osmund ihnen aus der Bibliothek von St. Columba zur Verfügung gestellt habe. »Allerdings ohne Wissen des Dompropstes«, fügte sie hinzu und wischte sich die Nase. »Der Schlag würde ihn treffen, wenn er drum wüsste.«
Nicholas schlug vor, ihr aus der Bibliothek seines Vaters etwas auszuleihen. Dieser würde es ohnehin nicht bemerken, weil er ständig auf Reisen sei.
»Was lesen denn deine Jungen?«
»Oh, ich weiß nicht – ich selbst kann ja nicht lesen.« Frau Bartel errötete und senkte den Blick. »Alles, glaube ich. Ja, einfach alles, was geschrieben ist. Aber Ihr könnt doch nicht …«
»Gut. Dann will ich ihnen den Caesarius von Heisterbach mitbringen. Es sind lehrreiche und doch vergnüglich zu lesende Anekdoten. Ich glaube, damit kann ich nichts falsch machen. Der Herr möge dich und die Deinen behüten.«
Spät am Nachmittag machte sich Nicholas wieder auf den Heimweg. Wie jedes Mal schwirrte ihm noch der Kopf von den Berichten der Bartelschen. Von Männern, die ihre Frauen halb tot prügelten, Kindern, die schon im zarten Alter an Fieber verstorben waren, von Kranken, die keinen Arzt bezahlen konnten, und Gebrechlichen, die unbemerkt in einem Hinterhof oder einer kleinen Kammer verhungert waren.
Am liebsten hätte auch er die Augen geschlossen und sich die Ohren verstopft vor den unflätigen Flüchen der Betrunkenen, die bereits vor der Mittagsstunde in düsteren Kaschemmen lärmten. Vor dem Gekeife überforderter Mütter, dem Weinen hungernder Kinder. Dann suchte er gern eine stille Kirche auf, um ganz tief in sich hineinzuhorchen, was Gott ihm zu sagen hatte. Er wusste, es gab eine lichte, eine bessere Welt, so wie Gott, der Herr, sie geschaffen und den Gläubigen verheißen hatte. Doch solange die Verheißung sich nicht an allen erfüllt hatte, durfte er dem Elend nicht ausweichen, wie es die anderen taten, die Sein Wort nicht beachteten und sich doch Christen nannten.
Um sich etwas abzulenken, beschloss Nicholas, den Heimweg über den Heumarkt zu nehmen, einem allseitig von stattlichen Giebelhäusern umschlossenen Platz, der den Reichtum der Kölner Kaufleute zur Schau stellte. Seinen Namen hatte er von dem Heu, das die Bauern der Umgebung in die Stadt brachten, wo es zur Fütterung der Pferde benötigt wurde. Aber auch Tuchhändler, Sattler und Gürtelmacher boten hier ihre Waren an. Die Salzsieder verkauften ihr weißes Gold in großen Bottichen. Bäcker, Fleischer und Käsehändler priesen laut ihre Erzeugnisse an.
Nicholas liebte den guten, erdhaften Geruch des Heus, der über dem Platz lag. Außerdem zogen ihn die vielen Fremden an, die das Heilige Köln besuchten. Rheinschiffer, breitschultrige Kerle mit wettergegerbten Gesichtern, die Tuche aus Brabant oder Flandern brachten und sogar aus den Niederlanden, wo der Rhein in das große Meer mündete. Bis nach London im fernen England segelten ihre Koggen und brachten Wolle und Häute mit. Nicholas sah ihnen zu, wie sie breitbeinig über den Platz stampften, überall neugierig stehen blieben, den Frauen schlüpfrige Bemerkungen nachriefen und reichlich dem Bier zusprachen.
An manchen Tagen kamen Spielleute in die Stadt mit schwarzen Augen und schwarzen Haaren. Ihre Kleider waren bunt wie die Farben des Regenbogens, ihre Haut tief gebräunt. Ihr buntes Treiben bezauberte Nicholas und erfüllte ihn mit Staunen.
Die zahlreichen Pilger, die Köln wegen ihrer
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