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Schatten eines Gottes (German Edition)

Schatten eines Gottes (German Edition)

Titel: Schatten eines Gottes (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jutta Ahrens
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wuchs mit jeder Sekunde. Er war kurz davor, mitten in den wimmelnden Haufen zu preschen und alles niederzureiten. Daheim hätte niemand nach ein paar zertrampelten Bauernkindern gefragt. Er begann zu ahnen, dass die Heimsuchungen und Gefahren seiner Reise weniger darin bestanden, sich der Straßenräuber und anderer Halunken zu erwehren. Die Städte waren es, die er meiden musste. Aber nun war es zu spät, und er steckte mittendrin in dem Schlamassel.
    Was ging in dem Dom vor? Nutzte da ein ausgefuchster Schlingel den Aberglauben der Massen für seine Zwecke? Und wen konnte man leichter verführen als Kinder? Octavien, dem Getue der Pfaffen abhold und in religiösen Dingen mehr seiner Mutter gefällig als selbst beeindruckt zu sein, nahm sich vor, gleich morgen den Dompropst aufzusuchen. Der würde Verständnis dafür haben, dass ein Ritter nicht neben dem Bettelvolk vor dem Altar knien konnte.
    Mittlerweile war die Sonne höher gestiegen, Octavien wurde warm, und er verspürte Durst, doch noch immer war kein Ende dieser Vorstellung abzusehen. Jetzt ließen sich die Kinder auch noch auf dem Boden nieder, als hätten sie vor, hier zu nächtigen. Tatsächlich tauchten jetzt Wasserverkäufer und fliegende Händler mit Backwerk auf. Was für ein würdeloses Spektakel! Octavien winkte einen Mann zu sich heran, der auf einem großen, vor den Bauch gehängten Brett kleine runde Brote feilbot. Doch dieser achtete nicht auf sein Winken. Er war damit beschäftigt, die Brote an die Kinder zu verteilen. Octavien war fassungslos. Ein armseliger Bauchladenbesitzer übersah ihn! Ein Hungerleider, dessen angestaubte Brote er unter gewöhnlichen Umständen nicht angefasst hätte, ging an ihm vorüber, als sei er Luft. Und er nahm nicht einmal Geld von den Kindern. Der Bäcker verschenkte die Brote! Unfassbar!
    »Heda, he!«, schrie Octavien. Diesmal winkte er einem Wasserverkäufer. »Hierher, Mann! Ich habe Durst!«
    Der Wasserverkäufer warf ihm einen flüchtigen Blick zu, nickte, hatte aber keine Eile, seinem Wink nachzukommen. Gelassen füllte er Becher um Becher aus einem großen Wasserschlauch und drückte sie in ausgestreckte Kinderhände. Es verging eine ganze Weile, bis die Reihe auch an Octavien kam. Als ihm ein Becher gereicht wurde, schlug er ihn wütend zu Boden. »Gib mir den Schlauch!«, fuhr er ihn an. »Glaubst du, ich trinke aus einem Becher, den schon hundert grindige Münder berührt haben?«
    »Der Schlauch ist unverkäuflich«, gab der Mann ruhig zur Antwort.
    Octavien kochte vor Wut. Sollte er sich nicht einmal einen Wasserschlauch kaufen können? »Ich zahle dir zehn kölnische Mark dafür!«, fauchte er. »Hier!«, Octavien hielt ihm die kostbaren Münzen hin, ein Vermögen für den Wasserverkäufer.
    Der Mann entblößte lächelnd einige Zahnlücken. »Ich sagte unverkäuflich. Ich werde bereits vom Herrn bezahlt.«
    »Von welchem Herrn?«
    Statt einer Antwort wies der Mann mit dem Daumen zum Himmel.
    »Der Aussatz soll dich schlagen!«, zischte Octavien. Mit einer heftigen Bewegung riss er sein Pferd herum und bohrte ihm die Stiefel in die Weichen. »Aus dem Weg!«, schrie er, dunkelrot vor Zorn, und tatsächlich öffneten die Kinder vor dem Wütenden eine Gasse. Rücksichtslos preschte er hindurch, die Kinder liefen schreiend auseinander, einige stürzten, stolperten über andere, rissen sie zu Boden, kleine Kinder weinten. Was hinter seinem Rücken geschah, kümmerte Octavien nicht. Nur fort von hier! Wieder atmen können.
    Erst als er den Heumarkt erreichte, zügelte er sein Pferd und ließ es in leichten Trab fallen. Er war sich bewusst, dass sein Haar zerzaust, seine Kappe verrutscht, seine Stiefel staubig und seine Kleider zerknittert waren. Er glaubte, nach Kloake zu stinken und bestimmt hatte er sich auch ein paar Läuse eingefangen. Angewidert rückte er seine Kappe zurecht, zog ein weißes Tuch aus seiner Brusttasche und wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht. Da hörte er von fern Gesang. Er schwoll an, und dann brauste ein Choral aus tausend Kehlen über die Stadt hinweg. Die Menschen blieben stehen und lauschten. Viele bekreuzigten sich, riefen ›Halleluja!‹ oder stimmten ein.
    Octavien sah einen Gürtelmacher hinter seinem Stand vor Rührung weinen. Er hielt auf ihn zu. »Was hat das zu bedeuten?«, fragte er barsch.
    »Die Kinder, sie singen.«
    »Das höre ich. Warum haben sich so viele vor dem Dom versammelt?«
    Der Mann schämte sich seiner Tränen nicht, seine Augen leuchteten.

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