Schatten eines Gottes (German Edition)
doch vor allem voll von Gestank, Dreck, Lärm und Geschrei.
Octavien saß steif im Sattel, das Gesicht zu einer Maske aus Widerwillen erstarrt. Seinen Onkel Frederic hatte er nicht angetroffen, es hieß, er sei auf Reisen. Aber der Hausverwalter hatte ihn aufgenommen. Heute Morgen war Octavien in aller Frühe aufgestanden. Eine geschwätzige Dienerin hatte ihm, obwohl er Eile vorschützte, ein Frühmahl aufgedrängt. An dem Essen war nichts auszusetzen, und auch als der Stallbursche ihm sein Pferd brachte, fand er nichts zu tadeln. Sein Roland war glänzend gestriegelt und hatte bereits einen Sack Hafer vertilgt. Octaviens Absicht, im Dom vor dem kostbaren Schrein der Heiligen Drei Könige zu beten, stand mithin nichts im Wege.
Doch schon nach wenigen Schritten musste er feststellen, dass er nicht der einzige Frühaufsteher in Köln war. Er hatte Mühe, sein Pferd durch die vollgestopften, mit Abfall bedeckten Straßen zu lenken. Immer wieder scheute das Tier vor freilaufendem Geflügel oder plötzlich aus irgendeinem Winkel hervorstürmenden Kindern. Stecken gebliebene Ochsenkarren versperrten ihm den Weg, Gassen endeten unverhofft an der Stadtmauer oder auf Plätzen, die Händler mit ihren tragbaren Ständen besetzt hatten. Sofort waberten ihm die Dünste von fettig-heißem Kuchen, bratenden Würsten, geräuchertem Fleisch und offenen Fischbottichen entgegen. Auch hielt es niemand für nötig, einem Edelgeborenen auszuweichen. Niemand zog ehrerbietig die Kappe vor ihm, wie er es von daheim auf dem Rittergut seiner Mutter gewöhnt war. Nein, die Stadt war seine Sache nicht.
Je weiter sich Octavien dem Dom näherte, desto ärger wurde das Gewühl. Er hatte gehofft, sein Gebet in gebotener Abgeschiedenheit und Ruhe verrichten zu können, doch das schien ihm verwehrt zu sein. Von überall strömten Menschen herbei, als wollte an diesem Morgen halb Köln den Heiligen Drei Königen einen Besuch abstatten. Es dauerte eine Weile, bis es Octavien auffiel, dass sehr viele Kinder und Halbwüchsige auf den Beinen waren. Die meisten waren zerlumpte Bälger, natürlich. Um diese Tageszeit schliefen die anständigen Bürgerskinder noch. Aber nicht einmal Köln konnte so viele Bettelkinder beherbergen!
Sie marschierten erstaunlich geordnet und zielstrebig und ohne das bei Kindern übliche Geschrei. Octavien blieb nichts anderes übrig, als sich mit dem Strom treiben zu lassen. Als er den Domplatz erreicht hatte, bot sich ihm ein entsetzlicher Anblick. Hier drängten sich Hunderte, vielleicht sogar Tausende von Kindern. Und immer noch strömten Neue hinzu. Woher kamen sie? Sie konnten unmöglich alle aus Köln stammen. Die Straßen, die auf den Platz führten, waren bereits völlig verstopft, und ohne sein Pferd wäre es Octavien nicht gelungen, überhaupt voranzukommen. Zwischen den Kindern irrten städtische Büttel herum, brüllten sich vergeblich die Kehlen heiser und fuchtelten hilflos mit ihren Spießen. Hier und da tauchte der wehende Talar eines Priesters in der Menge auf oder die Tonsur eines Mönches. Die Geistlichen versuchten, auf die Kinder einzureden, wurden aber nicht beachtet.
Octavien ahnte, dass er heute sein Gebet nicht würde verrichten können. Sein Gesicht war bleich vor Zorn. Stumm verfluchte er diesen Morgen. Von Schmutz und Schweiß umzingelt, musste er ausharren, eingekeilt zwischen verlausten Haarschöpfen und schorfbedeckten Gliedmaßen. Der Gestank der Armut, der aus ihren ungewaschenen Kleidern und Körpern stieg, verursachte ihm Übelkeit und drohte ihn zu ersticken.
Aus dem Innern des Doms ertönte jetzt Gesang, und an der großen Doppeltür entstand ein fürchterliches Gedränge. Priester, Mönche und Büttel bildeten gemeinsam eine Mauer, um weiteren Personen den Eintritt in das überfüllte Gebäude zu verwehren. Die Kinder begannen etwas zu rufen. Die Rufe wurden rasch von den anderen aufgenommen, pflanzten sich wie eine gewaltige Woge über den ganzen Platz und in den angrenzenden Gassen fort. Ein Name war es, der aus Hunderten von Kehlen brach: Nicholas! Nicholas!
Wer war dieser Nicholas, dessen Name von Tausenden gerufen wurde wie das Hosianna zu Jerusalem, als Gottes Sohn auf einem Esel in die Stadt geritten kam? Zu dem die Menschen strömten wie seinerzeit die Fünftausend zum See von Tiberias, als der Herr die wundersame Vermehrung der Brote und Fische bewirkt hatte? Es konnte sich doch kaum um den höflichen Knaben handeln, dem er am Hahnentor begegnet war.
Octaviens Gereiztheit
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